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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium
Autoren: Liao Yiwu
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die Schulter und schärfte mir ein: »In diesem Monat darfst du die Stadt nicht verlassen!«
     
    Auf einen Schlag waren ein paar hunderttausend Zeichen [2] weg! Vollkommen erledigt legte ich mich hin und bediente mich eine Weile der obszönsten Schimpfwörter, die der Sichuan-Dialekt kennt. Aber mir blieb nichts anderes übrig, ich musste von vorne anfangen. Man muss mich nicht bemitleiden, wir quälen uns alle in den engen Nischen unserer Existenzen ab, für so einen Furz im Wind hat niemand Mitleid. Aber vielleicht konnte der alte Himmelsvater es einfach nicht mehr mit ansehen, jedenfalls hat er mir als Wiedergutmachung einen Engel geschickt: meine Freundin. Als Kind wurde sie Song Yu gerufen, ihre Worte waren mild und sanft, sie war bei mir, sie ließ mich nicht im Stich, sie half mir über diese erbärmlichsten und mutlosesten Tage meines Lebens hinweg – und so wurde auch meine Praecox allmählich besser, auch wenn sich nichts grundsätzlich änderte. Ich war launisch, himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt, und wenn ich in den Kneipen Musik machte, schaute ich düster um mich oder gab meinem Affen Zucker. Einmal ging ich spontan so hoch, dass ich einem der Suffköppe eine Schnapsflasche auf dem Kopf zerschlug, was die Öffentliche Sicherheit auf den Plan rief.
    Ich war ganz unten, ich trieb mich herum, die Zahl derer, die kein Zuhause haben, geht in die Tausende. Es war, als wäre ich in einen bodenlosen Abgrund gefallen, da war keine Richtung, da war keine Freiheit. Wenn das Gefängnis in einem drin ist, wird man nie frei – das hatte mein Flötenlehrer zu mir gesagt. Aber wo war er in diesem Augenblick? Ich fing an, mich Tag für Tag zuzusaufen, verfluchte den Staat, die Polizei, verfluchte Deng Xiaoping und Li Peng, ich fluchte sogar auf die Elite unseres Landes und die Demokratiebewegung im Ausland, ich verfluchte die Hunderttausenden, die 1989 auf die Straße gegangen waren. Warum musste ich am Morgen des 4 . Juni dieses Gedicht vortragen, dieses »Massaker«? War es das wert? Die Leute waren tot, sauber zugrunde gerichtet. Die überlebt hatten, würden für immer wie die Hunde leben. Das war es, was bei der Lesung des »Massakers« herausgekommen war.
     
    Mein Geheimpolizist stand weiter vor der Tür und besuchte mich. Keine Ahnung, ob es in meinen vier Wänden irgendwelche Abhörvorrichtungen gab, aber wohin ich ging, mit wem ich Umgang hatte, selbst meine Träume waren für die Geheimpolizei ein offenes Buch. Ich träumte immer wieder, ich würde fliehen, in den Himmel oder in die Erde, ich schlug mit den Armen wie mit Flügeln, bis ich ganz außer Atem war. Ich hatte mir angewöhnt, zusammengerollt wie ein Embryo zu schlafen, mich möglichst klein zu machen, und noch kleiner, als könnte ich so in den Mutterleib zurück. Dort wäre ich vor neugierigen Blicken sicher! Song Yu hat mich oft wachgerüttelt und mich wie eine Mutter in den Arm genommen. Bis ein weiterer Albtraum von Tag heraufkam.
    Davor hatte mir Liu Xiaobo per Fax aus Beijing eine unleserliche »Petition« zugeschickt, etwas zur »Wahrheit über den 4 . Juni«. Dumpf unterschrieb ich und schickte es zurück. Zwei Tage später wurde ich in dem gleichen Zustand von der Geheimpolizei abgeholt und blieb 20  Tage im Gästehaus des Amtes für Öffentliche Sicherheit in Gewahrsam. Song Yu rannte von Pontius zu Pilatus und holte mich schließlich nach Hause. Ihre erste Frage war: Wenn das so weitergeht, wie soll es dann weitergehn?
    Ich schwieg. Auf einmal nahm in meinem Kopf ein Satz von Dylan Thomas Gestalt an: On whom a world of ills came down like snow … [3]

4
    Ein paar Jahre gingen ins Land, und ich machte die Bekanntschaft von Ding Zilin, einer der Angehörigen der Opfer vom 4 . Juni. Als sie sich meine Geschichte angehört hatte, sagte sie: Da kannst du noch von Glück sagen!
    Ein paar Jahre gingen ins Land, und ich machte die Bekanntschaft von Wu Wenjian, dem Maler des Massakers. Er hatte sich meine Geschichte noch nicht zu Ende angehört, als er meinte, ich könne noch von Glück sagen!
    Ich sagte, im Verhältnis zu den Opfern habe ich Glück gehabt.
    Sie meinten, das stimme nicht, ich hätte auch im Verhältnis zu den Überlebenden Glück gehabt.
     
    Jiang Lianjie, der einzige Sohn von Frau Professor Ding Zilin, war 1989 erst 17  Jahre alt, er ging noch auf die höhere Schule, als er von der Welle des Patriotismus erfasst wurde und sich mit brennendem Herzen in die Straßenpolitik stürzte – das Herz, das in der Nacht
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