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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium
Autoren: Liao Yiwu
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zum 4 . Juni von einer Kugel durchbohrt worden ist und für das jede Hilfe zu spät kam. Das Ehepaar Ding hat in seinem Schmerz beschlossen, aufzustehen und vor der Welt Klage zu erheben. Unter seiner Führung sind nach und nach auch die Angehörigen anderer Opfer aufgestanden und haben die »Bewegung der Mütter vom Tiananmen« gebildet. Über 20  Jahre sind vergangen, aber die Mörder herrschen weiter über dieses Land, während die Eltern, die ihre Kinder verloren haben, unter der Überwachung der Geheimpolizei alt werden und sterben.
    Wu Wenjian war 1989 gerade 19 , gehörte also zu derselben Generation wie der einzige Sohn der Familie Ding. In der Nacht auf den 4 . Juni ging er, ohne auf die Vorhaltungen seiner Eltern zu hören, auf die Straße, um die Bewegung zu unterstützen; er hatte Glück, denn die Kugel streifte nur seine Kopfhaut, sie traf nicht sein Herz. Voller gerechtem Zorn hielt er öffentlich eine Rede, in der er die »Blutschuld« einforderte, und verschwand für Jahre hinter Gittern.
     
    Wu Wenjian ist der Erste der Straßenkämpfer vom 4 . Juni, den ich interviewte. Offiziell bezeichnet man uns in unserem Land als Rowdys, sagte er. Immerhin, damals, an diesem Abend, standen ein paar Millionen solcher Rowdys mit leeren Händen einer bis an die Zähne bewaffneten Armee gegenüber. Am Anfang bahnten sich Panzer und gepanzerte Fahrzeuge einzeln den Weg. Wo sie auf eine Straßensperre stießen, haben sie sie einfach überrollt; nachher haben sie wahllos um sich geschossen, alles schrie vor Entsetzen, eine Salve, eine Blutlache, die Menschen wurden knatternd hingemäht wie Gras.
    Im Westen kennt man nur Wang Weilin, weil er sich auf der Straße als Einzelner den Panzern in den Weg gestellt hat. Eine lange Reihe von Panzern, die qualmend herandröhnten, wie riesige, unablässig flatulierende Käfer rollten sie nach rechts, nach links und wurden doch von diesem einzelnen Mann aufgehalten. Ihr seid aus Eisen, ich bin aus Fleisch und Blut, überrollt mich doch, ihr Bastarde! Dieses Bild ist in die Geschichte eingegangen, weil westliche Journalisten es aufgenommen haben, ein Glück! Es heißt, dem alten Präsidenten Bush seien bei der Liveübertragung die Tränen über das Gesicht gelaufen. Aber in dieser Nacht gab es in China unzählige Wang Weilins, die nicht von Kameras festgehalten wurden.
     
    Zheng Yi, ein nach Amerika geflohener Schriftsteller, schreibt in seinen Erinnerungen: Am 3 . Juni 1989 , es muss gegen neun Uhr abends gewesen sein, haben die Menschen, die sich auf Höhe der Muxi-Hochstraßenkreuzung auf der ganzen Breite der Chang’an den Truppen entgegenstellten, Hand in Hand eine Menschenkette von zwei-, dreihundert Meter Länge gebildet und rückten unter ohrenbetäubenden Parolen vor. Die anrückenden Soldaten hatten Stahlhelme auf, hielten Schilde und Schlagstöcke in Händen und schlugen wie von Sinne um sich. Die Menge ging mit Steinen zum Gegenangriff über und wich zögernd zurück. Gegen zehn waren sie bei der Hochstraßenkreuzung, beide Seiten wurden von Autos getrennt, die als Barrikaden quer zur Straße standen. Das Pionierbataillon wagte nicht, einfach an der Sperre vorbeizurollen und die Menge direkt anzugreifen, also stellten sie Panzer an die vorderste Front.
    Ein anderer Augenzeuge berichtet, ein Panzer habe in voller Geschwindigkeit versucht, den quer zur Brücke stehenden Oberleitungsbus aus dem Weg zu räumen; Tausende von Menschen hätten auf Zeichen von ein paar höher postierten jungen Leuten lauthals den Countdown für den Zusammenprall von Panzer und Bus gezählt, gleichzeitig seien sie wie eine Woge über ihn hinweggeschwappt. Unter dem gemeinsamen Aufprall dieser gewaltigen Kräfte kreischte die Mauer aus Autos entsetzlich, aber sie ragte weiter quer zur Brücke in die Luft. Die Wucht des Panzers verpuffte, die Leute brachen in Triumphgeschrei aus. Und dann ging das beiderseitige Kräftemessen weiter, jedes Mal machte der Panzer den wütenden Anfang, und wenn die grandiose Szene des beidseitigen Anrennens gegen diese Mauer aus Autos ihren Höhepunkt erreichte, endete das Ganze mit einem Rückzug des Panzers und einem Siegesgeheul der Menschen. Nach wiederholtem Aufprall gegen die Mauer begann die Armee Tränengasgranaten in Richtung der Menge abzufeuern, sie flogen über die Straßensperre und explodierten, alles war voller Tränengasschwaden, und den Leuten blieb nichts anderes übrig, als mit den Händen vorm Gesicht auszuweichen. Der Panzer nutzte das,
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