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Die Kugel und das Opium

Die Kugel und das Opium

Titel: Die Kugel und das Opium
Autoren: Liao Yiwu
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kommen.

Ding Zilin und Jiang Peikun
Suche am Ende des Jahres
    Am 31 . Dezember 2009 haben wir mit Zhang Xianling eine Sache zu Ende gebracht, die uns viele Jahre auf dem Herzen gelegen hat.
    In der zweiten Hälfte des Mai 2003 , am Vorabend des Jahrestags des 4 . Juni, wurde Jiang Qisheng nach vierjähriger Haft aus dem Gefängnis entlassen, wir haben von ihm Hinweise auf ein Opfer des 4 . Juni bekommen. Auf dem Papier stand nicht der Name des Toten, auch nicht die Umstände der Ermordung, das Einzige, was man erkennen konnte, war die Adresse des Toten in der Nähe der Landwirtschaftsausstellungshalle in der östlichen Vorstadt, xxx-Straße, Gebäude xxx, Hausnummer xxx. In diesem Herbst sind wir in unsere Heimat nach Jiangsu zurückgekehrt und haben vor unserer Abreise Zhang Xianling gebeten, diesem Hinweis nachzugehen. Sie hat in der Nähe der Landwirtschaftsausstellung alles abgesucht, viele Anwohner befragt, aber überall hieß es, die gesuchte Person habe hier nicht gewohnt. Seinerzeit war der 4 . Juni bereits 14  Jahre her, um die Wahrheit zu sagen, waren die Eindrücke des Massakers bei den Menschen bereits verblasst – zumindest an der Oberfläche. Außerdem war das ein großes Gebiet, und man konnte kaum überall fragen.
    Notgedrungen blieb der Hinweis eine Weile liegen, der Zettel kam zu unseren Akten, und so gingen Jahre ins Land, doch die Sache lag uns immer noch am Herzen. Einmal haben wir Jiang Qisheng getroffen und zu ihm gesagt: Der Hinweis, den Sie uns gegeben haben, führt uns, so fürchten wir, nicht zum Ziel, wenn wir keine genaueren Einzelheiten erfahren. Jiang Qisheng überlegte eine Weile, bis er uns erzählte, wo der Zettel herkam: Im Gefängnis hatte ein Todeskandidat erfahren, dass Jiang im Knast saß, weil er an den 4 . Juni erinnert hatte, was ihm Respekt abnötigte; jedenfalls hat er, weil er ihm vertraute oder aus Mitgefühl für die Opfer des 4 . Juni, Jiang diesen Hinweis auf einen Toten in seiner Nachbarschaft gegeben. Kurz darauf wurde der Mann hingerichtet. Die Zeit verging, im Nu waren zehn Jahre vorbei.
    Das war das erste Mal, dass ich von den näheren Umständen hörte. Dieser Mann hatte, bevor er die Welt verließ, noch etwas Gutes getan. Ein altes Wort sagt: »Angesichts des Todes spricht der Mensch die Wahrheit.« Als er diesen Hinweis gegeben hat, wusste er, dass das Ende nahe war.
    Eine schmerzliche, schwer zu verarbeitende Erfahrung! Als wir nun diesen Hintergrund kannten, wollten wir den Hinweis nicht wieder aus den Händen legen.
    Am 3 . März 2009 haben wir, gut ein Dutzend Angehörige von Opfern, von unserem Leidensgenossen Duan Hongbing auf dem Babaoshan-Friedhof Abschied genommen. Ding Zilin hat den Hinweis in die Hände des Ehepaars Zhou gelegt, die beiden waren sehr viel jünger als wir, aber mit großer Begeisterung bei der gemeinsamen Sache, die auch eine Sache der Allgemeinheit ist. Ding Zilin sagte: »Ihr seid alte Beijinger, ihr kennt euch hier aus, die Adresse ist nicht genau, in der Nähe der Landwirtschaftsausstellung gibt es sie nicht, wir haben sie nicht ausfindig machen können, aber vielleicht gibt es in dieser Sache ja noch Hoffnung, bitte!«
    Es dauerte nicht lange, und von den Zhous kam Nachricht: gefunden. Die Adresse sei nicht in der Nähe der Landwirtschaftsausstellung, sondern in der Nähe des Jinsong. Sie hatten, wie wir auch, in der Nähe der Landwirtschaftsausstellung gesucht, waren überall, aber die angegebene Adresse konnten sie nicht ausfindig machen. Später haben sie dann auf der Straße jemanden getroffen, der ihnen erzählte, am Jinsong gäbe es eine solche Adresse. Daraufhin eilten sie zum Jinsong, wo die Straße tatsächlich existierte und sie die Adresse schnell ausfindig machen konnten. Sie mussten lange klopfen, die Bewohner öffneten nur sehr ungern die Tür und ließen sie ein.
    Es war ein typischer Beijinger Arbeiterhaushalt, die beiden Alten, ehemalige Arbeiter, waren in Rente, die drei Söhne waren ebenfalls Arbeiter. Der Ermordete war ihr Zweitgeborener, seine Witwe hatte wieder geheiratet und den gemeinsamen Sohn mitgenommen. Ihr Mann lag krank im Bett, die Einrichtung im Zimmer war einfach und primitiv, wie es aussah, hatten sie kein leichtes Leben.
    Als die beiden Zhous wieder zu Hause waren, brannten sie darauf, uns die neue Lage zu berichten, und haben uns außerdem eine konkrete Fahrroute geliefert. Ding Zilin und Xianling haben sich mehrfach auf den Weg machen wollen, aber 2009 war ein besonderes Jahr. Der 4
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