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Die Knochentänzerin

Die Knochentänzerin

Titel: Die Knochentänzerin
Autoren: Franz-Josef Körner
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verdient hatte – damals, in Venedig, als sie den Totgeglaubten auf der goldenen Barke des Dogen Francesco Dandolo wiedertraf. Diesen sollte er für Vaterland und Ehre töten.
    Die nächste Wehe überrollte sie. Und dann die nächste …

    Hatte die Wehmutter während der Nachtstunden ihre Häme über Sineads Schmerzen noch verbergen können, so gelang ihr dies nun nicht mehr. Als hätte das Kind das fahle Morgenlicht gespürt, drängte es mit furchterregender Entschlossenheit aus Sineads Leib. Die Füßchen waren das Erste, was die Hebamme sah, doch alles, was ihr einfiel, war, die Hand vor den Mund zu heben und zu rufen: »O Gott, wenn es sich nur nicht mit der eigenen Nabelschnur erdrosselt!«
    Sinead war beinahe blind vor Schmerzen und Angst. Trotzdem sah sie nun die blutverschmierten Beine ihres Kindes, die strampelnd aus ihrem Schoß ragten. »Tu etwas! Verdammt, tu etwas!«, schrie sie die Wehmutter an, während sie presste und presste, bis der kleine Unterleib, ebenfalls rot von Blut, zwischen ihren Schenkeln herausragte und die Beine immer wilder strampelten.
    »O Gott, es steckt fest!«, rief die Hebamme panisch, grapschte nach dem Messer neben dem Nähzeug, ließ es fallen, hob es auf und legte es weg.
    Sineads Keuchen klang nicht mehr menschlich. Wieder schrie sie: »Verdammt, tu endlich etwas! Du musst etwas tun! Du musst schneiden!«
    Die Wehmutter griff erneut nach dem Messer und brach sofort in heftiges Schluchzen aus. »Ich kann das nicht! Nein, ich kann das nicht!«
    Sinead war es, als würde ihr Schoß zerreißen. Mit Entsetzen sah sie, wie ihr Kind um sein Leben kämpfte. Doch trotz aller Schmerzen, trotz aller Panik, wusste sie es plötzlich mit Gewissheit: Der Kopf steckte fest. Ihr Kind würde jämmerlich ersticken, wenn sie nicht ihren eigenen Leib aufschnitt, um es zu befreien. Sie sah das Messer und riss es der Wehmutter aus der Hand. Eine unheimliche Ruhe überkam sie mit einem Mal. Ihre Hand war ruhig, als sie das Messer ansetzte. Sie wusste, dass sie sterben würde, aber es spielte keine Rolle.
    »Sie soll auf den Namen Cailun getauft werden, hörst du?« Sineads Stimme klang fest und bestimmt.
    Ohne Hast und mit Bedacht, so dass sie ihr Kind nicht verletzte, zog sie die scharfe Klinge nach oben, bis sie auf den Rippenbogen stieß. In all dem Blut sah sie die Nabelschnur, die sich fest um den Hals gelegt hatte. Sie löste sie vorsichtig und zog den Säugling aus ihrem aufgeschlitzten Leib.
    Das wütende Plärren des kleinen Mädchens, gefolgt von ihrem eigenen Schrei, war das Letzte, was Sinead in ihrem Leben hörte.

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    Erstes Buch
    Schottland
    1
    Icolmkill, Innere Hebriden
    E rbarmungsloses, dunkles Meer.
    Ein Nachen, eine Nussschale nur, mit einer vom Sturm zerfetzten Pferdedecke als Segel soll mich vor vierzehn oder fünfzehn Jahren auf das Eiland gebracht haben – zu den heiligen Schwestern vom Orden Sancti Benedicti. Ich habe keine Erinnerung an die sicherlich stürmische Überfahrt. Wer mich gebracht hat – und warum hierher –, ich weiß es nicht. Ich bin auf jene Wahrheit angewiesen, die mir die ehrwürdige Äbtissin des Klosters, Matilda, offenbarte. Dies tat sie an einem jener Abende, die es hier selten gibt: Die Luft war klar und mild, der Sommertag, der sich seinem Ende zuneigte, erstrahlte in ungewohnter Klarheit. Wo sonst der Sturm die Wolken vor sich hertrieb und ein Regenguss den anderen jagte, wölbte sich ein blassblaues Firmament. Das Meer, das es so sehr liebte, weiße Gischt aufzuwerfen und zu brüllen, schwieg.
    »Setz dich zu mir, es ist an der Zeit, dass du alles erfährst.« Äbtissin Matilda tätschelte mit der flachen Hand die bemooste Steinplatte neben sich, hoch auf den Klippen, über denen Seevögel kreisten.
    »Ehrwürdige Mutter?« Ich sagte die mit dem Stock eingebläute Anrede mit gesenktem Blick, der sehnsüchtig über die Schiefertafel des Meeres glitt.
    »Du weißt, es ist meine Art, die Dinge beim Namen zu nennen – nicht lange um die Wahrheit herumzuschleichen.«
    Ich wusste es nicht, kannte ich doch niemanden, der es so trefflich verstand, jede Botschaft durch verwinkelte Nebensätze zu verschlüsseln, bis man sich am Ende der Rede in einem Irrgarten wähnte. Keine andere der heiligen Schwestern – zwölf an der Zahl wie die Apostel Jesu – konnte der Äbtissin das Wasser reichen, wenn es darum ging, einfache Dinge ins Unverständliche zu verschleiern, möglicherweise hatte sie deshalb ihr Amt erhalten.
    »Cailun.« Sie stockte. Nichts
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