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Die Knochentänzerin

Die Knochentänzerin

Titel: Die Knochentänzerin
Autoren: Franz-Josef Körner
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kommt, um mich zu holen, werde ich mit ihm gehen.«
    Nun wurden auch noch die Lippen der Äbtissin dünn. »Kind, du weißt nicht, wie schrecklich und grausam die Welt dort jenseits des Meeres ist.«
    Mein trotziges Schweigen nahm sie als Aufforderung fortzufahren: »Edward der Dritte, der englische König, hat viel Unheil über die Welt gebracht. Schon sein Vater versuchte, sich Schottland einzuverleiben. Wie der Vater, so der Sohn. Auch dieser begann einen Krieg mit uns, wurde aber in der Schlacht von Culblean besiegt. Heute sind nur noch wenige Burgen, wie die in Edinburgh, Roxburgh oder Sterling in den Händen der Engländer.«
    All die Namen schwirrten in meinem Kopf.
    »Nun hat Edward einen weiteren schrecklichen Krieg begonnen – gegen Frankreich, denn er beansprucht den französischen Thron für sich.«
    Hier unterbrach ich, Opfer meiner unstillbaren Neugierde. »Ein Engländer will französischer König werden? Warum denn?«
    Äbtissin Matilda seufzte hörbar. »Cailun, du bist erst fünfzehn Jahre alt und ich fürchte, du verstehst zum einen die Politik nicht und zum anderen auch nicht den Machthunger der Männer. Es ist kompliziert. Ich versuche, es dir trotzdem zu erklären. Im französischen Königshaus gab es die größte Katastrophe, die sich ein Land vorstellen kann.«
    »Ein großes Feuer?« Ich dachte an das Meer, das uns umschloss. »Oder einen heftigen Sturm, der alles zerstörte?«
    »Viel schlimmer.« Äbtissin Matilda schüttelte den Kopf. »Zuerst starb der französische König. Dann – man kann es sich kaum vorstellen, als hätte der Leibhaftige persönlich die Hände im Spiel – alle seine Söhne, einer nach dem anderen, drei an der Zahl. Also gab es keine direkten Thronfolger mehr. Edward, der englische König, erinnerte sich als Sohn Isabellas, der Tochter Philipps des Schönen, an seine Verwandtschaft zum französischen Königshaus. Du musst verstehen, dass Könige vor allem von einem Gedanken besessen sind: immer noch mehr Land zu besitzen, am besten die ganze Welt. Die Franzosen wollten einem Engländer den Thron und damit ihr Land natürlich nicht geben. Also begann Edward einen Krieg. Und der Krieg ist wie ein Lauffeuer, das sich rasend schnell ausbreitet. Die halbe Welt ist betroffen, sogar Banken in Florenz machen Bankrott, weil sie sich mit Kriegsanleihen übernommen haben.«
    Ich verstand nicht einmal die Hälfte, doch auch so faszinierte mich das Gehörte unendlich. Mir schien, als würde mir zum ersten Mal die Welt erklärt. Engländer, Schotten, Franzosen, Kriege – all das war so fremd für mich wie die Sterne am Himmel. Bisher hatte ich mein Leben auf einem Stück Fels im Meer hinter Klostermauern verbracht, ich hatte lesen und schreiben gelernt, Gälisch, Latein und Französisch. Ich hatte von griechischen Philosophen gehört, von Königen und Kaisern, die längst gestorben waren. Ich kannte die Heilige Schrift und mehr Psalmen, als Blätter am knorrigen Apfelbaum im Klostergarten hingen. Doch von der wirklichen Welt dort draußen am Ende des Meeres wusste ich nichts. Aber alles, alles wollte ich wissen. Beinahe bettelte ich die Äbtissin an, fortzufahren. Sie tat mir den Gefallen.
    »Vor einigen Jahren schlugen die Engländer die Franzosen in der Schlacht von Crécy vernichtend. Sogar Edwards Sohn, genannt der Schwarze Prinz, nahm an dem Gemetzel teil. Seit dieser Zeit wogt die Kriegsgunst hin und her, mal gewinnen die Franzosen, dann die Engländer, dann wieder die Franzosen. Nur eins bleibt immer gleich: das Töten.«
    Sie schwieg, während sich die Abenddämmerung über das Meer senkte. Eine Möwe schrie hoch über unseren Köpfen. Der Schrei verklang, und die Äbtissin sprach weiter: »Mein Kind, Krieg ist nicht die einzige Geißel, die die Welt heimsucht. Der Tod zieht auch in Gestalt einer schrecklichen Krankheit durch die Lande, er schwingt seine Sense und mäht ganze Städte, ganze Landstriche nieder. Es ist die Pest, der Schwarze Tod, die schlimmste Seuche seit Menschengedenken. Eine Strafe Gottes für die Vermessenheit und Habgier der Könige, ihrer Helfer und Helfershelfer. Cailun. Dort draußen« – Matildas knochiger Zeigefinger deutete in die heraufziehende Nacht – »dort draußen haben sich die Tore der Hölle geöffnet, und die Menschen erleiden ein grausames Schicksal – grausamer, als du es dir vorstellen kannst. Glaub mir, Cailun, dein Vater hatte recht, als er dich, aus welchen Gründen auch immer, hierherbringen ließ. Es gibt keinen sichereren
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