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Die Knochentänzerin

Die Knochentänzerin

Titel: Die Knochentänzerin
Autoren: Franz-Josef Körner
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misstraute sie mehr als meinem Namen, dessen Herkunft irisch ist. Er bedeutet schlicht: Mädchen. Überhaupt – so viel wusste ich –, es war verzwickt mit mir. Mein Name: irisch. Der Ort meiner Geburt jedoch englisch, wobei die schlimmsten Feinde doch die Engländer waren! Ausgerechnet hier war ich gelandet, in einem schottischen Konvent auf der Insel Icolmkill, wo nicht nur die Gebeine schottischer Könige ruhten, sondern die sich auch rühmte, Quell und Mittelpunkt gälischer Geistlichkeit zu sein.
    »Cailun«, wiederholte die Äbtissin, während ich scheinbar ohne Ungeduld wartete, bis sie fortfuhr: »Folgendes wurde mir zugetragen, und du musst jetzt stark sein. Deine Mutter ist bei deiner Geburt gestorben, das wurde dir bereits gesagt.« Sie seufzte, als hätte sie ein schweres Los zu tragen.
    Ich, Cailun, die unter Nonnen aufwuchs, wusste mit dem Wort
Mutter
wenig anzufangen. Dies war ein abstrakter Begriff, geprägt von jenen Müttern, die ich aus dem Unterricht kannte und die sich im Wesentlichen auf die Muttergottes beschränkten. In der Kapelle stand eine steinerne Statue, Maria, aus grobem Fels gehauen, vermutlich von einem Bildhauer mit wenig Gefühl für Proportionen und die Feinheiten eines menschlichen Gesichts. Das Jesuskind in ihren Armen, ein unförmiges Bündel, das aus leeren Augen zur Decke glotzte.
    Die Äbtissin fuhr fort: »Es scheint aber – und um dir dies zu offenbaren, habe ich gewartet, bis du alt genug bist, es zu verstehen. Es scheint, dass dein Vater damals, als du herkamst, lebte. Was ich über ihn weiß, ist sehr wenig. Der Mann, der dich brachte, erklärte nur, er habe Befehl von höchster Stelle, dein Schicksal in meine Hände und die meiner Mitschwestern zu legen, und dass dein Name Cailun sei. Diese Insel, dieses Kloster sei für dich der sicherste Platz von allen. Was er mir verschwieg oder nicht sagen konnte, ist, welchen Gefahren dein Leben an anderen Orten ausgesetzt gewesen wäre. Nur eins versprach er, bevor er wieder verschwand – dein Vater würde eines Tages kommen, um dich abzuholen.«
    Beinahe wäre ich aufgesprungen. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Mein Vater wird mich holen! Welch eine Botschaft! Sie klang wie das Versprechen, aus einem dunklen Verlies befreit zu werden – aus diesem feuchten Gefängnis über der wütenden See, unter dem düsteren Himmel –, wo mein Leben aus Beten, Arbeiten und der Sehnsucht nach all den Dingen bestand, die ich mir ausmalte.
Vater!
Gab es ein göttlicheres Wort? Mein Kopf gebar ein Wunschbild: Ich sah einen stolzen Ritter in glänzender Rüstung auf einem wundervollen schwarzen Ross. Er streckte den eisenbewehrten Arm aus und hob mich hinter sich aufs Pferd.
    Plötzlich hatte all mein Sehnen einen Namen. Vater! In mir tobten die Gefühle, wie tief unten an anderen Tagen das Meer. Fast hörte ich nicht die Worte, die die Äbtissin Matilda nun sprach:
    »Mein Kind, ich weiß nur nicht, wie das gehen soll. Ein Engländer, ein Todfeind – niemand würde ihn auf unsere Insel lassen. Wenn er überhaupt noch …«
    Ich sprudelte über: »Vielleicht kommt er heimlich des Nachts. Oder er lässt mich so holen, wie ich gebracht wurde? Oder …« Ich stockte, als mich der Blick der ehrwürdigen Mutter einfing.
    »Mach dir keine Hoffnungen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich sag dir die Wahrheit – unumwunden. Fünfzehn Jahre lang ist er nicht gekommen. Entweder ist er tot, oder er hat dich vergessen. Ich denke, das Beste wird sein, du legst das Gelöbnis ab und lebst dein Leben hier bei uns, in Bescheidenheit und gottesfürchtigem Fleiß.«
    Mein Herz raste immer noch. Die Offenbarung der Äbtissin war in mir aufgegangen wie eine wuchernde Saat. Niemals, niemals, würde ich mich damit abfinden, mein Leben hier zu verbringen. Vater ist nicht tot! Jeden Tag, jede Stunde, jeden Augenblick würde ich von nun an darauf warten, dass er kam! Wieder senkte ich den Blick, um nicht den Aufruhr zu verraten, der in mir tobte. Dies deutete die Äbtissin als Zustimmung. Ungewohnt gütig legte sie ihre knochige Hand auf meinen Arm.
    »Mein Kind, du wirst die Entscheidung nicht bereuen, dein Leben dem Herrn zu weihen. Es gibt keinen besseren Ort für dich, eine arme Waise, als den Ordo Sancti Benedicti.«
    Sie musste das Flackern in meinen Augen bemerkt haben, denn ihre Augen wurden schmal. Trotzdem, und obwohl ich sie als strenge, unnachgiebige Äbtissin kannte, nahm ich all meinen Mut zusammen und sprach mit zittriger Stimme. »Wenn mein Vater aber
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