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Die Knochentänzerin

Die Knochentänzerin

Titel: Die Knochentänzerin
Autoren: Franz-Josef Körner
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Ort auf Gottes Erdboden als diesen.« Die Äbtissin erhob sich, müde und erschöpft, wie mir schien. »Komm, Cailun, lass uns zurückgehen. Jetzt weißt du alles, was du wissen musst.«
    Sie stand auf und ging los – langsam, aufrecht mit würdevollem Gang, der schwarze Habit wie ein dunkler Schleier in der Dämmerung. Sie hatte sehr milde zu mir gesprochen, was mich verwunderte. Ich kannte sie ganz anders: streng, unnachgiebig, herrschsüchtig.
    Ich folgte ihr auf dem engen Pfad, der sich zur Klosterpforte wand. Die Glocke im schmalen Turm der Kapelle läutete und rief zur Komplet. Die Gedanken brausten in meinem Kopf. Wie ein Vogel, der aus dem Ei geschlüpft ist und endlich Federn bekommen hat, wollte ich trotz Krieg und Pest nur eins: endlich fliegen. Hinaus in die Welt – und wenn dort noch so sehr Tod und Verderben herrschten.

    In der Kapelle steckte eine einsame Fackel in der gusseisernen Halterung. Wegen der Feuchtigkeit, die durch alle Ritzen des Mauerwerks drang, qualmte und stank sie. Sie verbreitete einen düsteren, flackernden Schein, und trotz der Glut im Kohlebecken kroch die Kälte herein. Ein schlichtes Kreuz aus dunklem Holz hing über dem Altar und bildete zusammen mit der Gottesmutter und Moosflechten in den Ritzen des Mauerwerks den einzigen Schmuck. Die Schwestern knieten in zwei Reihen auf den grob zusammengezimmerten Betstühlen, ganz vorne Äbtissin Matilda auf ihrer eigenen Bank. Mein Platz war hinten, neben der Tür, auf einem Schemel, der Kerben auf meinen Schienbeinen hinterließ, weil der Zimmermann sich nicht die Mühe gemacht hatte, den Hobel zu benützen. Und trotzdem – obwohl mir die Kälte um die Beine schlich, obwohl der Fackelqualm in meiner Kehle kratzte, es dunkel war und feucht –, dies war mein Ort. Die Äbtissin kniete auf ihrem Betstuhl nieder, sie gab den Psalm vor und betete in einem monotonen Singsang die ersten Zeilen, die wir wiederholten. Und ich tauchte ein in meine eigene Welt. Die Psalmen kannte ich in- und auswendig, das kantige Latein verließ meine Lippen, ohne dass ich darüber nachdenken musste. Auf diesem Schemel, mit den schwarz gewandeten Rücken der Nonnen vor mir und dem Raunen der Stimmen in der Luft, konnte ich träumen. Ich träumte zuerst von Dingen, die ich aus der Bibel kannte. Vom Paradies und der Schlange – und ob sie wohl giftig war? Was, wenn sie Adam oder Eva gebissen hätte? Ich stellte mir vor, wie Moses das Meer teilte. Welches Schicksal hatten die Fische erlitten, die plötzlich auf dem Trocknen zappelten? Ich hoffte, die Juden hatten sie aufgesammelt und zurück ins Wasser geworfen. Je älter ich wurde, desto mehr versuchte ich mir vorzustellen, wie die Welt jenseits dieser Insel aussah. War das Meer, das uns umgab, jenes, das am Ende der Welt plötzlich aufhörte, und die Schiffe, die dorthin segelten, stürzten ins endlose Nichts?
    »Domine exaudi vocem mean fiant aures tuae …«,
schwebten die Worte der Äbtissin im flackernden Zwielicht, und wir wiederholten sie im Chor.
    »… intendentes in vocem deprecationis meae …«
    Auch heute versank ich nur augenscheinlich im Gebet. In Wirklichkeit kreisten all meine Gedanken nur um eins: Irgendwo dort draußen, hinter dem Meer, das wohl doch nicht aufhörte, in einem Land, wo der Krieg und die Pest herrschten – irgendwo dort war mein Vater.
Du bist nicht tot,
flüsterte etwas in mir, während meine Lippen den Psalm rezitierten
»… quia apud te propitiato est propter legem tuam sustinui te …«
und Äbtissin Matilda die nächsten Zeilen vorbetete:
    »… domine sustinuit anima mea in verbum eius …«
    »Vater«, brach es dann plötzlich aus mir heraus. »Bitte, komm doch endlich und hol mich fort von diesem schrecklichen Ort.«
    Entsetzte Stille folgte. Alle Schwestern waren herumgefahren, gespenstisch glänzten die Gesichter unter den schwarzen Kapuzen. Ein plötzliches Aufheulen des Windes, der sich im Mauerwerk der Kapelle verfing, verkündete den nächsten Sturm. Doch der Wind schwieg wieder, als die Äbtissin, die sich erhoben hatte, verkündete: »Morgen, nach der Laudes, wirst du deine Strafe erfahren.« Dann drehte sie sich wieder zum Altar, kniete nieder und fuhr fort:
»… speravit anima mea in Domino a custodia matutina usque ad noctem speret Israhel in Domino
…«
    Und die Schwestern und auch ich nahmen die heiligen Worte aus dem Psalm hundertdreißig
de profundis
auf.
    Später auf meinem Strohsack im Dormitorium hörte ich, neben dem Schnarchen der Schwestern,
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