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Die Knochenfrau

Die Knochenfrau

Titel: Die Knochenfrau
Autoren: Oliver Susami
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    „Schau nur, Wilma! Schau nur, wie ich mich bewegen kann! Jetzt versuch es doch auch einmal!”
    Und Wilma sah in ihrem Todestraum an sich herab und tatsächlich: Sie stand auf ihren eigenen Beinen ... und sie konnte die Arme bewegen und den Kopf und sie konnte gehen, wohin sie wollte. Sie war nicht mehr gelähmt, sie lag nicht mehr in diesem verfluchten Bett. Und dann war auch ihr Mann da und hielt ihre Hand. Er sagte ihr, dass er sie lieb habe und dass er ihr ein Eis kaufen werde. Und dann ... dann erwachte Frau Schneider und ein Fremder beugte sich über ihr Gesicht.
     
    *
     
    Am vierten Tag hatte man Wilma Schneider gefunden. Die Schwester, die kurz nach elf Uhr Vormittag zum Verbandswechsel kam, klingelte fünfmal, dann schlug sie einige Male gegen die Tür. Als ihr niemand öffnete, da ging sie um das kleine Haus herum, schaute in die Fenster und sah den alten Mann, der ihr so oft geöffnet hatte, auf dem Boden liegen. Mit pochendem Herzen und zittrigen Fingern wählte sie die Nummer der Feuerwehr. Dann wartete sie fünf Minuten, verlor die Geduld, nahm sich einen der Holzscheite, die hinter dem Haus lagen und wollte gerade das Wohnzimmerfenster einschlagen, als sie bemerkte, dass es überhaupt nicht verschlossen war. Der Griff war in der Horizontalen. Die Krankenschwester legte (ein wenig enttäuscht war sie schon, sie hatte noch nie ein Fenster eingeschlagen) den Holzscheit weg, drückte das Fenster auf und stieg unter Ächzen und Stöhnen hinein in den Verwesungs- und Uringestank. Was sie erwartete, das war fast zu viel für sie. Sie hatte schon einiges erlebt in ihren fast 30 Jahren als Krankenschwester. Aber das ... der Geruch war unerträglich. Zuerst – das warf sie sich später vor, das war nicht korrekt – öffnete sie weitere Fenster und ließ den Gestank heraus. Dann sah sie nach den beiden alten Leuten.
    Erst dachte sie ja, beide seien tot. Sie dachte, die alte Frau sei gestorben und der Mann habe sich daraufhin das Leben genommen. So erschien ihr das logisch. Die beiden alten Leute hatten ja nur sich.
    Aber als sie genauer hinsah und sich über das Bett beugte, da stellte sie fest, dass die alte Frau zwar dem Tod nahe, nicht jedoch tot war. Sie fühlte ihre Stirn und sie war nicht so kalt, wie sie hätte sein müssen.
    Und dann machte die Krankenschwester alles richtig: Befeuchtete mit einem Lappen das Gesicht und den Mundraum der Frau. Hängte ihr einen Beutel mit Wasser an die Magensonde und versuchte, sie aufzuwecken. Leise sprach sie mit ihr, tätschelte ihre Wangen, träufelte ihr Wasser in den Mund und reinigte ihre verklebten Augen. Die Frau reagierte, verzog den Mund und gab ein leises Stöhnen von sich. Dann bewegten sich ihre Augenlider. Nein, öffnen konnte sie sie nicht. Aber scheinbar versuchte sie es. Und dann kam auch schon der Rettungswagen.
    Das Gesicht, in das Wilma Schneider blickte, als sie erwachte, trug Brille und Vollbart. Sie kannte diesen Mann nicht.
    „Frau Schneider, Frau Schneider ... können Sie mich verstehen?”
    Die alte Frau versuchte, etwas zu sagen. Aber natürlich kam nichts. Dann zwinkerte sie und der bärtige Mann lächelte.
    „Frau Schneider, bitte versuchen Sie, wach zu bleiben. Die Schwester, die Sie gefunden hat, hat uns gesagt, dass einmal zwinkern für ja steht, zweimal zwinkern für nein ... und dreimal dafür, dass sie es nicht wissen. Ich werde das jetzt mal mit Ihnen testen. In Ordnung? Heißen Sie Wilma?”
    Die alte Frau verstand erst nicht und der Mann wiederholte seine Frage. Sie zwinkerte einmal.
    „Gut, jetzt eine andere Frage. Sind Sie ein Mann?”
    Die alte Frau zögerte, zwinkerte dann zweimal. Was sollte diese Frage?
    „Das klappt ja ganz ordentlich“, sagte der Bärtige. „Haben Sie irgendwelche Schmerzen?”
    Die alte Frau schaute ihn nur an. Sie wusste nicht, wo sie war. Sie wusste nicht, was das für ein Kerl war, der ihr da Fragen stellte. Nur langsam kam die Erinnerung ... was ist mit meinem Mann?
    „Frau Schneider, bitte antworten Sie mir. Haben Sie irgendwelche Schmerzen? Tut Ihnen irgendwas weh?”
    Nach einigen Sekunden zwinkerte sie zweimal. Dann kamen ihr die Tränen. Ihr Mann war nicht mehr bei ihr, sie war nicht mehr zuhause. Sie war irgendwo. Sie war immer noch gelähmt, immer noch völlig hilflos. Es gab auch keinen roten Ball mit gelben Punkten. Und dann stand alles vor ihr: Er war einfach umgekippt, einfach umgefallen. Und sie hatte gehofft, er werde wieder aufstehen, sich wieder aufraffen. Aber er war
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