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Die Knochenfrau

Die Knochenfrau

Titel: Die Knochenfrau
Autoren: Oliver Susami
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zeigte auf den angespitzten Spaten. „Mach schnell, großer Held. Sorg dafür, dass in Rothenbach keine Kinder mehr sterben. Und wenn du fertig bist: Schieb den Schrank zurück … ich muss mich um meine Tochter kümmern.”
    Lukas nahm den Spaten, hob auch die Taschenlampe vom Boden auf und ging zu der Tür in der Kellerwand.
     
    *
     
    Während die Frau mit dem verquollenen Gesicht sich über ihre immer noch benommene Tochter beugte und leise auf sie einredete, duckte sich Lukas in die kleine Tür. Ein leichter Verwesungsgeruch kam ihm entgegen, längst nicht so schlimm wie vorhin in dem Tunnel. Lukas leuchtete in den Erdstall und sah nichts als eine gewaltige Menge weißer und gelber Knochen. Der gesamte Boden des länglichen Raumes war bedeckt mit diesen Knochen, es waren die Überreste tausender getöteter Tiere. Lukas glaubte, einen Hasenschädel zu erkennen, daneben die vertrockneten Reste eines Igels.
    Langsam und bereit zu töten, den Spaten fest umklammernd, stieg Lukas gebückt durch die Tür. Er stieg eine Stufe hinunter in eine schlauchförmige Erdhöhle, etwa drei Meter breit und sechs Meter lang, die Luft war kalt und abgestanden. Am Ende dieser knochenbedeckten Höhle war die kleine Holztür, die er von der anderen Seite mit Erde blockiert hatte.
    Lukas leuchtete mit der Taschenlampe den Raum aus, dann war er sich sicher, wo sie war. Am Ende der Höhle, etwa einen Meter neben der Holztür, lag lockere Erde auf dem Knochenmeer. Und über diesem Erdhaufen war ein Loch – zu klein für einen Menschen aber groß genug für sie. Lukas hörte das bekannte scharrendes Geräusch. Das Dreckvieh war dabei, sich aus der Falle heraus zu graben.
    Lukas stürmte ans Ende der Höhle, zertrat die Knochen dutzender Tiere und leuchtete in das Loch. Verdammte Scheiße! Da war sie! Nur etwa eineinhalb Meter vor ihm. Ein dürres, graues Wesen, irgendetwas zwischen Mensch und Tier. Es drehte ihm den Rücken zu und scharrte Erde nach hinten. Unter der grauen Haut zeichneten sich Rippen und Wirbel ab.
     
    Das angespitzte Spatenblatt traf sie am Unterschenkel und riss ihr die Haut auf. Sie gab ein winselndes Geräusch von sich, drehte sich kurz um und sah das wütende Gesicht des Menschen, scharrte dann verzweifelt weiter. Der nächste Stoß, härter und genauer als der erste, brach ihr das Becken. Sie sackte zusammen, konnte ihr rechtes Bein nicht mehr bewegen, ächzte und stöhnte, drehte sich auf die Seite, sah den Stoß kommen. Zwischen ihren Rippen drang kaltes, starres Metall ein und sie spürte einen brutalen Schmerz. In ihrer Verzweiflung trat sie nach hinten aus und in diesem Moment packte sie der Mensch am Fuß und zerrte sie aus dem Loch. Blutend und winselnd fiel sie auf die Erde, versuchte sich zusammenzurollen, versuchte, sich zu konzentrieren, versuchte, ihn zu erreichen. Was war seine Angst? Was konnte ihn aufhalten? Aber er trat ihr hart gegen den Schädel und das Bild, das gerade an Deutlichkeit gewonnen hatte, verschwamm wieder. Ohne dass sie es kommen sah, rammte er ihr den Spaten in den Rücken, durchtrennte die Wirbelsäule. Immer noch lebte sie, immer noch hatte sie Angst und Schmerzen. Nur bewegen konnte sie sich nicht mehr. Sie nahm noch wahr, wie dieser große, schwer atmende Mensch sie auf den Bauch drehte und ihr auf den Hals stieg. Sie bekam keine Luft mehr, hörte ihre Wirbel brechen … und starb.
     
    *
     
    Lukas war sich sicher, dass es tot war. Er nahm seinen Stiefel vom Genick des Dings und drehte es mit dem Fuß auf den Rücken. Das, was da verdreht und blutverschmiert vor ihm lag, sah eher bemitleidenswert als bedrohlich aus. Es war nur ungefähr 1,20 Meter groß und wog sicher nicht mehr als 25 Kilo. Es hatte graue Haut, die über den Knochen spannte. Es sah aus, wie ein nackter, magerer Affe. Nur der Kopf war anders. Das Ding hatte Haare, die Augen waren milchig weiß. Es sah alt aus, alt und verschrumpelt. Mit der Fußspitze drückte Lukas die Oberlippe nach oben und sah eine Reihe spitzer, weißer Raubtierzähne.
    Lukas kniete sich neben den Leichnam und berührte die Haut. Sie fühlte sich kühl und rau an. Eigentlich sollte ich glücklich sein, eigentlich sollte ich stolz sein. Ich hab das Vieh erwischt, es wird keine Kinder mehr töten. Aber als er diesen mageren, völlig zerstörten Leib betrachtete, da empfand er weder Stolz noch Freude. Eigentlich fühlte er überhaupt nichts, nicht einmal Erleichterung. Noch während Lukas auf das tote Wesen herab blickte, war er in
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