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Die Knoblauchrevolte

Die Knoblauchrevolte

Titel: Die Knoblauchrevolte
Autoren: Mo Yan
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dabei.
    Tante Vier wollte weiterschlafen, aber sie hatte kaum die Augen geschlossen, da stand Onkel Vier mit blutigem Kopf vor ihrem Bett. »Mutter meiner Kinder, wieso bist du immer noch hier? Komm schnell mit mir mit.«
    Onkel Vier streckte die Hand aus, um ihr aufzuhelfen, da krähte der Hahn in der Küche des Arbeitslagers, und Tante Vier erwachte mit heftig klopfendem Herzen. Der Hahn krähte ein zweites Mal. Am Himmel wurde es heller.
    Als der Weckpfiff schrillte, kam Tante Vier nur mit Mühe aus dem Bett. Ihr wurde plötzlich schwindlig, und sie brach zusammen. Die Rufe ihrer Mitgefangenen, die gerade ihre Decken falteten, alarmierten eine Wärterin, die Tante Vier im Hereinkommen auf dem Boden liegen sah.
    »Legt sie aufs Bett«, befahl die Aufseherin. Gemeinsam hoben mehrere Frauen Tante Vier auf ihr Bett.
    Die Aufseherin holte den Gefängnisarzt, der Tante Vier eine Spritze gab.
    Als sie wieder zu sich kam, verzog sie den Mund, und aus ihren Augen liefen milchige Tränen. Der Arzt desinfizierte die Platzwunde an ihrem Kopf und legte einen Verband an.
    Nach dem Frühstück sagte die Aufseherin zu Tante Vier: »Nummer achtunddreißig, du bleibst heute in der Zelle und ruhst dich aus.«
    Tante Vier war so gerührt, daß sie kein Wort herausbrachte.
    Die weiblichen Gefangenen traten im Hof an, stellten sich in Reihen auf und gingen zur Arbeit auf die Felder. Danach wurde es im Gefängnisgebäude sehr still. Große dicke Ratten wuselten im Hof umher und erschreckten einen nach Futter suchenden Sperling, der aufflatterte und vor dem Zellenfenster landete. Mit schiefgelegtem Kopf beobachtete er Tante Vier aus seinen kleinen schwarzen Augen. Ihr war sehr traurig zumute, und ihre Tränen flossen aufs neue. Sie weinte ganz still vor sich hin. Als sie davon genug hatte, flüsterte sie: »Vater meiner Kinder, ich komme zu dir.«
    Tante Vier zog den Gürtel aus ihrer Hose, schlang ihn um den eisernen Rahmen des oberen Bettes und schloß ihn wieder. »Vater meiner Kinder«, murmelte sie wieder, »heute geht mein Leiden zu Ende.« Sie steckte ihren Kopf in die Schlinge und ließ sich nach unten fallen.
    Aber Tante Vier starb nicht. Sie wurde von einer Aufseherin gerettet, die ihr eine kräftige Ohrfeige gab und schimpfte: »Alte Idiotin, was machst du denn da?«
    Tante Vier kniete vor der Aufseherin nieder. »Mädchen, liebes Mädchen, tun Sie mir einen Gefallen, lassen Sie mich sterben.«
    Die Aufseherin zauderte. Auf ihrem Gesicht erschien ein sanfter, weiblicher Ausdruck. Sie zog Tante Vier hoch und sagte leise: »Großmutter, über deinen Selbstmordversuch darfst du niemandem etwas sagen. Ich werde dich nicht verraten. Weine nicht mehr soviel und zeige dich von deiner besten Seite, dann werde ich mich dafür einsetzen, daß du vorzeitig entlassen wirst.«
    Wieder wollte Tante Vier vor ihr auf die Knie fallen, wurde aber von ihr daran gehindert.
    »Liebes Mädchen«, sagte Tante Vier, »der Tod meines Mannes war ein schreiendes Unrecht.«
    »Davon will ich nichts hören«, sagte die Aufseherin. »Erwähne diese Geschichte nie wieder. Daß du als Rädelsführerin die Kreisverwaltung in Brand gesteckt hast, war ein schweres Verbrechen.«
    »Ich habe den Kopf verloren«, erwiderte Tante Vier, »ich werde es nie wieder tun.«
    Einen Monat später erhielt Tante Vier Haftverschonung aus Krankheitsgründen und durfte in ihr Heimatdorf zurückkehren.
3
    Am Neujahrstag 1988 wurde im Arbeitslager nicht gearbeitet. Von den mehreren hundert Häftlingen saßen einige auf ihrer Pritsche und schrieben Briefe nach Hause, andere hatten sich hingelegt und schliefen, und mehrere drängten sich vor dem Fenster der Lagerleitung, weil im Zimmer ein Schwarzweißfernseher auf dem Tisch stand, in dem gerade die Übertragung der Neujahrsgala lief. Auf einem großen Stein im Hof saßen Gao Ma und Gao Yang im milden Sonnenschein. Sie hatten ihre wattierten Jacken ausgezogen und suchten sie nach Flöhen ab. Überall im Hof saßen Häftlinge zu zweit oder zu dritt zusammen, um vertrauliche Gespräche zu führen und den Sonnenschein zu genießen. Der Posten auf dem Wachturm neben Tor zwei hielt sein Gewehr schußbereit. Das Eisentor des Haupteingangs war abgeschlossen. Ein großes Vorhängeschloß hing im Sperriegel.
    Einige Mitarbeiter der Lagerverwaltung schnitten den Häftlingen die Haare und plauderten dabei mit ihnen.
    Auf der Mauer der offenen Toilette im Hof rannten große Ratten hin und her. Eine schwarze Katze wurde zwischen dem
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