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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition)
Autoren: Doris Lessing
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wüssten wir, wie sie empfanden. Doch es gibt keine Aufzeichnungen von ihnen, nicht einmal Zeichen auf Rinde oder Steinen. Ihre Geschichtsschreibung haben sie den
Gedächtnissen
ins Ohr gesagt, und vielleicht haben sie nie daran gedacht, dass man Ewigkeiten später nicht wissen würde, was sie mit »sehnen«, »wollen« oder »träumen« meinten, als sie sagten: »Horsa sehnte sich nach seinem ›anderen‹ Land.«
    »Warst du traurig, Horsa?«
    »Traurig?«
    »Wir wollen es versuchen. Wenn du an diese magische Küste denkst, was empfindest du dann? Denkst du: Dort sind dann endlich meinesgleichen, und sie werden sagen: ›Horsa, da bist du ja, warum hast du so lange gebraucht? Wir haben auf dich gewartet‹? Hast du das Gefühl, dass dir irgendein Glück verwehrt bleibt?«
    »Glück?«
    Wenn wir derartige Rufe in die Vergangenheit senden, können es nur Fragen sein. Und es muss nicht unbedingt Antworten geben.
    Wenn ich neben jemandem aus meiner eigenen Generation sitze und sage: »Weißt du noch?«, vermischen sich die Worte, die ich verwende, mit den Ereignissen, die diese Person im Gedächtnis bewahrt, und entsprechend ist die Stimmung zwischen uns lebendig und interessiert. Doch wenn man dieselben Worte bei jemandem aus einer jüngeren Generation verwendet, kommt man sich vor, als würde man Steine ins Meer werfen.
    Wenn man Horsa befragt, kommt gar nichts zurück.
    Wenn er mich hören könnte, würde er vielleicht sagen: »Nein, du verstehst das nicht. Also, über unser Land weiß ich alles, was man wissen kann, ich kenne jeden Baum, jede Pflanze, jeden Vogel, jedes Tier. Doch jene andere Küste, die ich dort sah, schimmernd wie die Morgendämmerung – ich weiß nichts über sie.
Aber ich muss es wissen.
Verstehst du das nicht?«
    Vielleicht würde er genau das sagen, und ich verstehe das durchaus, und noch viel mehr, was ihn betrifft und was er nicht versteht. Doch meine Fragen sind die eines alten Römers, der seinem Lebensende entgegengeht, ohne dass wir irgendeine Vorstellung davon hätten, wie jene dachten oder empfanden.
    Namen können hilfreich sein. Wir wissen, dass Maire und Astre – die Horsa und seinesgleichen so fern sind wie diese uns – den Himmel in ihr Leben holten, indem sie die Namen von Sternen annahmen. Horsa war der Name eines Sterns, bevor er ägyptische Namen erhielt, griechische Namen, unsere römischen.
    Wenn wir wüssten, was jener Stern seinerzeit bedeutete, könnten wir Horsa vielleicht endlich sprechen hören. Oder uns das zumindest vorstellen.
    Während Horsa auf die Rückkehr seiner jungen Männer wartete, wälzte er düstere und schwer erträgliche Gedanken. So heißt es in den Geschichten. Der Grund war, dass er Maronna einiges erzählen musste. Und davor konnte er nun nicht weglaufen, um sich ein anderes Tal, eine neue Lichtung im Wald zu suchen. Natürlich tat es ihm leid um die kleinen Jungen, die in den Höhlen verschwunden waren. Doch andererseits dachte er, dass es schließlich rasch zu Schwangerschaften kam und dass dann Kinder zur Welt kommen würden – schnell gäbe es lauter neue. Und je früher die Männer zu den Frauen kamen, desto besser.
    Mittlerweile blickte er von dem kleinen Hügel, auf dem er sich befand, über die Baumwipfel hinweg, und als er die Kluft anstarrte, die aus diesem Blickwinkel ganz anders aussah, bemerkte er, dass dort weiße Wolken aufstiegen, und hörte den Donner mehrerer Explosionen. Er wusste sofort, was geschehen war. Diese Verrückten, seine tapferen jungen Männer, hatten nicht widerstehen können und ein, zwei Felsbrocken in die Grube geworfen.
    Daraufhin kamen die Jäger, jene, die sich nicht von den Höhlen fernhalten konnten, in mehreren Gruppen auf Horsa zugerannt, wie auch die Jungen, die aus dem Schacht in der Höhle gerettet worden waren. Alle scharten sich um Horsa, sahen ihn an und erwarteten, dass er zornig wurde und ihnen Vorwürfe machte, aber er sagte nur: »Und jetzt ist es Zeit, dass wir zu den Frauen gehen.«
    Alle machten sich langsam auf den Weg, doch Horsa konnte nicht Schritt halten und blieb schon bald weit zurück, zusammen mit den geretteten Jungen.
    »Wird Maronna böse auf uns sein?«, fragten sie, und er sagte: »Nun, was meint ihr?«
    Je weiter sie gingen, desto besser konnten sie sehen, welchen Schaden die Explosionen angerichtet hatten. Die Bäume waren mit immer dickeren weißen Schichten überzogen, wie auch die Felsküste, die sie schließlich erreichten, an der die Frauen warteten. Die
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