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Die Kluft: Roman (German Edition)

Die Kluft: Roman (German Edition)

Titel: Die Kluft: Roman (German Edition)
Autoren: Doris Lessing
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zurückhaben. Jedes abwesende männliche Wesen war schließlich ein Bruder oder ein Sohn … ich wage es nicht, das Wort Geliebter zu verwenden. Wir müssen davon ausgehen, dass man so etwas wie »Ich liebe dich« wohl eher nicht aussprach oder hörte – noch nicht. »Ich mag dich lieber als die anderen« – ja, ich denke, das war gestattet. So, wie wir es vielleicht unsere Kinder schüchtern sagen hören, die noch längst keine Männer oder Frauen sind und dazu einen kindlichen oder sogar ungeschickten Kuss auf eine Wange drücken. Ich will nicht behaupten, dass jene Menschen aus weit entfernter Vorzeit kindlich waren. Doch wenn ich in der Vergangenheit forsche, kann ich einfach nicht »hören«, dass jemand »Ich liebe dich« sagt.
    »Du fehlst mir«, »Sie fehlen uns« – ja, das kann ich hören, mühelos.
    Seit Maronna Horsa zu Beginn seiner Eskapade verlassen hatte … ja,
dieses
Wort kann ich ohne Weiteres hören. Aber »höre« ich auch: »Männer sind große Kinder«, was mit Sicherheit jedem männlichen Leser dieses Werks im Zuge von Differenzen mit seiner Frau – oder seiner Geliebten – vorgeworfen wird? Wie mühelos ich »Geliebte« schreiben kann, wenn von uns die Rede ist … Seit Maronna Horsa zuletzt gesehen hatte, war den Frauen kein Wort mehr von den Reisenden übermittelt worden. Nur, wenn hier und da ein Mädchen heimkehrte, weil ihr die Männer zu ruppig waren. Sie hätten über das Ende der Welt hinausgehen können … aber Moment: Für sie hatte die Welt kein Ende und keine Begrenzung, was für uns schwer vorstellbar ist, weil wir es gewohnt sind, an die Grenzen unseres großen Imperiums zu denken, von dem wir wissen, dass es den größten Teil der Welt umfasst. Kein Wort hatten sie gehört. Dabei hätte die Expedition doch sicher jemanden entbehren können, der sich auf den Rückweg begab, um die Frauen zu beruhigen. Keine der Frauen wusste, wie weit die Männer gegangen waren, und keine besaß eine Vorstellung davon, dass sie an jenem fernen Strand verweilt hatten, wo Horsa in Träume von seiner perlmuttgoldenen Küste versunken gewesen – und zum Krüppel geworden war. Ein Bote hätte von Horsas gebrochenem Bein und davon zu berichten gehabt, dass einige Jungen in Sümpfen oder Flüssen umgekommen waren; und später hätte er zugeben müssen, dass sie ziemlich viele kleine Jungen verloren hatten. Vielleicht war es besser, dass die Frauen nichts davon wussten.
    Inzwischen wuchsen auch die kleinen Jungen heran, denen man das Abenteuer wegen ihres Alters verweigert hatte, und selbst wenn sie noch längst nicht erwachsen waren, konnte man sie doch nicht mehr als kleine Kinder bezeichnen. Sie waren stark, denn die Wellen, ihr Spielplatz, hatte sie geschult. Sie jammerten oft, weil man ihnen den Spielplatz im Wald wie auch das Recht vorenthielt, den Frauen davonzulaufen, im Wald die Männer zu suchen und bei ihnen aufzuwachsen. Sie wussten, dass das nicht möglich war – wussten, dass »ihr Platz« erst wieder ihnen gehören würde, wenn die Männer zurückgekehrt waren, um die großen, gefährlichen Schweine und Katzen zu bekämpfen und ihr rechtmäßiges Zuhause, den Ort der Männer, zurückzuerobern. Ohne die Jäger, die großen Jungen, würde sich nichts ändern, also warteten die kleinen Jungen, die so klein gar nicht mehr waren, auf die Männer, genau wie die Frauen – alle warteten darauf, dass ihr Leben wieder ein Ganzes sein würde.
    Es war wenig behaglich an der Küste der Frauen, die nur erträglich gewesen war, solange die Jungen in den Wald zu den Männern zogen. Es waren viel zu viele dort, und das schon seit langer Zeit. Und eines machte langsam alle verrückt – es kamen keine Kinder zur Welt, und es waren keine zu erwarten, weil die Frauen nicht schwanger wurden. Das jüngste Kleinkind konnte bereits laufen. Keine schreienden Säuglinge, auch wenn die kleinen Jungen genügend Lärm veranstalteten. Die Menschen erinnerten sich an alte Mythen: War nicht alles besser gewesen, als man noch keine männlichen Wesen brauchte, um Kinder zu machen? Die weiblichen Wesen waren vom Mond, vom Ozean oder auch von großen Fischen geschwängert worden, oder sogar vom Geist der Kluft selbst. Und nun saßen die Frauen, die zur Vereinigung mehr als bereit waren, müßig auf den Felsen herum und sprachen über die Männer. Sie warteten, weiter nichts.
    Über die Männer und die vermissten Jungen sprachen sie mit finsteren Vorahnungen. Sie wussten, was für ein achtloser Haufen
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