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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester
Autoren: Raymond Chandler
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Augen, einem dünnen graden Mund und einem spitzen Kinn. Er hatte den Ausdruck im Gesicht, den ich erwartet hatte. Wenn du vergessen hast, einen Fleck von deinen Schuhen zu wischen - er würde es dir bestimmt sagen. Ich legte die Fotos weg und betrachtete Orfamay Quest, versuchte irgend etwas in ihrem Gesicht zu finden, das auch nur entfernt ihm ähnlich war. Unmöglich. Nicht die kleinste Spur von Familienähnlichkeit, was natürlich überhaupt nichts bedeutet. Hat nie was bedeutet.
    »Also gut«, sagte ich. »Ich werde mal da hinfahren und es mir ansehen. Aber Sie müßten sich denken können, was passiert ist. Er ist in einer fremden Stadt. Eine Zeitlang verdient er viel Geld. Vielleicht mehr, als er je im Leben verdient hat. Er lernt eine Art von Leuten kennen, die er früher nie gekannt hat. Und es ist eine ganz andere Stadt - Sie können mir glauben, ich kenne Bay City - als Manhattan in Kansas. Er hat einfach über die Stränge geschlagen und will nicht, daß seine Familie es erfährt. Er wird schon wieder in Ordnung kommen.«
    Sie schwieg einen Augenblick und starrte mich an, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein.
    Orrin ist nicht der Typ, der so was macht, Mr. Marlowe.«
    »Jeder ist der Typ«, sagte ich. »Besonders ein Bursche wie Orrin. Der Typ aus der Kleinstadt mit dem frommen Getue, die ganze Zeit mit der Mutter am Hals und dem Pfarrer an der Hand. Hier draußen ist er einsam. Er hat Moneten. Er möchte sich ein bißchen Wärme und Licht kaufen, und nicht von der Sorte, wie es durch das Ostfenster einer Kirche kommt. Nicht daß ich irgend etwas dagegen hätte. Aber davon hatte er schon reichlich abbekommen, stimmt's?«
    Sie nickte lautlos mit dem Kopf.
    »Also fängt er an herumzuspielen«, fuhr ich fort, »und er versteht nicht richtig zu spielen. Das muß man auch können. Er sitzt in der Klemme mit irgendeinem Nüttchen und einer Flasche Fusel, und er kommt sich vor, als hätte er dem Bischof die Hosen geklaut. Schließlich, der Bursche wird bald neunundzwanzig, und wenn ihm danach ist, sich im Schlamm zu wälzen, ist das seine Sache. Später wird er schon jemand finden, dem er die Schuld gibt.«
    »Ich mag Ihnen nicht glauben, Mr. Marlowe«, sagte sie langsam. »Schon wegen Mutter
    ... «
    »Es war die Rede von zwanzig Dollar«, fuhr ich dazwischen.
    Sie schien schockiert. »Muß ich Sie jetzt bezahlen?«
    »Wie hätte man es denn in Manhattan, Kansas, gemacht?«
    »Wir haben keine Privatdetektive in Manhattan. Bloß die normale Polizei. jedenfalls glaube ich nicht.«
    Sie grub wieder in ihrer Werkzeugtasche und zog einen roten Geldbeutel heraus, und diesem entnahm sie einige Scheine - alle fein zusammengefaltet und extra. Drei Fünfer und fünf Einer. Viel schien danach nicht übrig zu sein. Sie entfaltete die Scheine auf dem Schreibtisch, legte sie aufeinander und schob sie rüber. Sehr langsam, sehr bekümmert, als ob sie ein Lieblingskätzchen ersäufen müßte.
    »Ich geb Ihnen eine Quittung«, sagte ich.
    »Ich brauche keine Quittung, Mr. Marlowe.«
    »Ich schon. Sie geben mir Ihren Namen und Ihre Adresse nicht, also möchte ich irgend etwas mit Ihrem Namen drauf.«
    »Wozu?«
    »Um zu zeigen, daß ich Sie vertrete.« Ich holte den Quittungsblock raus, fertigte die Quittung aus und hielt ihr den Block hin, um das Doppel zu unterschreiben. Sie wollte nicht. Einen Augenblick später nahm sie widerstrebend den harten Bleistift und schrieb
    >Orfamay Quest< in säuberlicher Büro-Handschrift quer über das Doppel.
    »Immer noch keine Adresse?« fragte ich.
    »Lieber nicht.«
    »Dann melden Sie sich - jederzeit. Meine Privatnummer ist auch im Telefonbuch. Bristol Apartments, Apartment 428.«
    »Ich werde Sie wahrscheinlich nicht aufsuchen«, sagte sie kühl.
    »Ich hab Sie noch nicht gebeten«, sagte ich. »Wenn Sie wollen, rufen Sie so um vier an. Vielleicht habe ich dann was. Vielleicht auch nicht.«
    Sie erhob sich. »Ich hoffe, Mutter wird es nicht falsch finden«, sagte sie, wobei sie mit ihrem blassen Fingernagel an ihrer Lippe kratzte. »Ich meine, daß ich hergekommen bin. «
    »Erzählen Sie mir nichts mehr von den Sachen, die Ihrer Mutter nicht gefallen«, sagte ich. »Lassen Sie diesen Teil einfach weg.«
    »Also hören Sie!«
    »Und hören Sie mit Ihrem >Also hören Sie< auf. «
    »Ich finde, Sie sind ein sehr streitsüchtiger Mensch«, sagte sie.
    »Nein, Sie finden das nicht. Sie finden mich reizend. Und ich finde, Sie sind eine faszinierende kleine Lügnerin. Sie glauben doch wohl
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