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Nur Dumme machen keine Fehler

Nur Dumme machen keine Fehler

Titel: Nur Dumme machen keine Fehler
Autoren: Andreas Schlueter
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Der Kribbel-Zeh
    Johanna wollte nichts falsch machen. Diesmal nicht. Sie hatte es sich fest vorgenommen. Aber das hatte sie jedes Mal und dann war doch immer etwas passiert. Zusammengekauert saß sie auf ihrem blauen, aufblasbaren Lieblingsplastiksessel und bewegte sich nicht. Wer sich nicht bewegte, konnte auch nichts falsch machen, wusste Johanna. Sie wusste nur nicht, wie lange sie sitzen konnte, ohne sich zu bewegen. Sie hatte es noch nie probiert.
    Jetzt saß sie bereits eineinhalb Minuten ohne den Sekundenzeiger ihrer Pokémon-Uhr auf dem Nachtschränkchen aus den Augen zu lassen. Gleich hatte sie zwei Minuten geschafft. Zwei Minuten ohne die geringste Bewegung! Dies ist eine lange Zeit, besonders, wenn es zwischen dem großen Zeh und dem kleineren daneben plötzlich kribbelt.
    So, wie Johanna gerade saß, konnte sie mit der Hand unmöglich den großen Zeh erreichen.Sie hätte sich bewegen müssen. Doch wenn sie sich bewegte, passierte meistens etwas. Mal fiel eine Vase um, ein anderes Mal ein Glas Milch; auf dem Herd brannte etwas an oder ein Bild fiel von der Wand. Es war schon vorgekommen, dass die Waschmaschine ausgefallen war und ihr Kater Volker auf den Sessel gemacht hatte. Für Letzteres waren nach Johannas Auffassung zwar eindeutig die neuartigen Kätzchen-Plätzchen verantwortlich gewesen, die ihre Mutter eines Tages angeschleppt hatte. Doch Johanna hatte sich mit ihrer Meinung wieder einmal nicht durchsetzen können und auch für Volkers verdorbenen Magen die Schuld zugeschoben bekommen.
    An allem war Johanna schuld gewesen. Wie sie das angestellt hatte, wusste sie selber nicht, aber Alexander war sich jedes Mal ganz sicher. Und der musste es ja wissen, denn Alexander war schon erwachsen und der neue Freund ihrer Mutter. Immer wenn er ihre Mutter besuchte, wohnte er für einige Tage bei ihnen.

    Eigentlich lebte er in einer ganz anderen Stadt und kam nur wegen Johannas Mutter. „Wenn das keine Liebe ist!“, hatte ihre Mutter behauptet. Was sollte Johanna dagegen vorbringen? Alexander hatte also recht. Johanna war an allem schuld gewesen, was in den vergangenen drei Monaten in der kleinen Zweieinhalbzimmer-Wohnung passiert war; wenngleich sie nicht begriffen hatte, wie sie all die kleinen Unglücke verursacht haben sollte.
    Tatsache war, dass Johanna bei jedem Unglück anwesend gewesen war. Genau wie Alexander. Aber der hatte die Unglücke nur beobachtet. Johanna hatte sie verschuldet. Das war der Unterschied.
    Aber diesmal nicht. Diesmal würde nichts passieren! Davon war Johanna überzeugt. Und wenn doch, dann wäre sie ganz gewiss nicht schuld, denn sie bewegte sich nicht. Nicht einmal ein klitzekleines bisschen. Wenn es nur zwischen dem großen und dem kleineren Zeh daneben nicht so entsetzlich kribbeln würde!
    Johanna schaute zur Uhr. Zwei Minuten und sechsunddreißig Sekunden saß sie schon regungslos auf dem Sessel. Aus dem Nebenraum hörte sie das leise Klacken, das Alexanders Finger auf einer Tastatur erzeugten. Alexander saß am Küchentisch, hatte seinen Laptop aufgeklappt und tippte„etwas ungeheuer Wichtiges“, wie er gesagt hatte. Johanna durfte auf gar keinen Fall stören.

    Das tat sie auch nicht. Sie saß nur still da und betrachtete ihren juckenden Zeh, den sie nicht erreichen konnte, ohne sich zu rühren.
    Sie wackelte mit den Zehen, doch das Kribbeln hörte nicht auf. Johanna wackelte gleich noch einmal. Sie konnte die Zehen so weit bewegen, dass der große und der kleinere Zeh aneinander scheuerten. Leider half das gar nichts gegen das Kribbeln. Das kam irgendwie mehr von innen. So lästig, dass man unbedingt mit der Hand zwischen den Zehen kratzen musste, damit es aufhörte. Sollte sie es tun?
    Vielleicht genügte es ja, wenn sie sich nur ein klitzekleines bisschen bewegte. Ein klitzekleines bisschen Bewegung konnte man eigentlich gar nicht Bewegung nennen, würde aber genügen, um den Finger zwischen die Zehen zu bohren und sich dort genüsslich kratzen zu können.
    Was sollte schon in der Wohnung passieren, wenn sie so gut wie bewegungslos auf ihrem Sessel kauerte und sich nur ein klitzekleines bisschen am Fuß kratzte?
    Gar nichts!, entschied Johanna, streckte die Hand aus, um den Pantoffel auszuziehen, damit sie besser an ihren Zeh herankam. Sie streifte den Hausschuh vom Fuß und ließ ihn auf den Boden fallen.
    Ein dumpfes, aber deutliches ‚Plopp‘ ließ sie aufschrecken.
    „Oh je!“, fiel ihr ein. Direkt vor dem Sessel hatte das volle Saftglas gestanden.
    Johanna
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