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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester
Autoren: Raymond Chandler
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sitze hier bloß, weil ich nirgendwo anders hin kann. Ich will nicht arbeiten.
    Ich will gar nichts.«
    »Sie reden zuviel.«
    »Ja«, sagte ich, »ich rede zuviel. Männer, die allein sind, reden immer zuviel. Oder sie reden überhaupt nicht. Sollen wir vom Geschäft reden? Sie sehen nicht wie der Typ aus, der Privatdetektive aufsucht, besonders keine Privatdetektive, die Sie nicht kennen.«
    »Weiß ich«, sagte sie ruhig. »Und Orrin wäre blau vor Zorn. Mutter wäre auch wütend.
    Ich habe Ihren Namen einfach aus dem Telefonbuch ... «
    »Welche Methode?« fragte ich. »Und mit offenen oder geschlossenen Augen?«
    Einen Augenblick lang starrte sie mich an, als sei ich eine Art Mißgeburt. »Sieben und dreizehn«, sagte sie ruhig.
    »Wie?«
    »Marlowe hat sieben Buchstaben«, sagte sie, »und Philip Marlowe hat dreizehn. Sieben zusammen mit dreizehn ... «
    »Wie heißen Sie?« Ich fauchte fast.
    »Orfamay Quest.« Sie kniff ihre Augen wie zum Weinen. Sie buchstabierte mir ihren Vornamen, alles ein Wort. »Ich lebe bei meiner Mutter«, fuhr sie fort und fing an, schneller zu reden, als ob meine Zeit sie Geld kosten würde. »Mein Vater starb vor vier Jahren. Er war ein Doktor. Mein Bruder Orrin wollte auch Chirurg werden, aber dann sattelte er um, auf Ingenieurwesen, nach zwei Jahren Medizin. Und dann, vor einem Jahr, fing er für die Cal-Western-Flugzeug-Werke zu arbeiten an, in Bay City. Es wäre nicht ni3tig gewesen. Er hatte einen guten Job in Wichita. Ich glaube, er wollte einfach irgendwie raus, nach Kalifornien. Ziemlich alle wollen das.«
    »Fast alle«, sagte ich. »Wenn Sie schon die randlose Brille tragen, könnten Sie wenigstens entsprechend reden.«
    Sie kicherte; mit gesenkten Augen zog sie mit der Fingerspitze eine Linie auf dem Schreibtisch. »Meinen Sie die mit den schrägen Gläsern, mit denen man irgendwie orientalisch aussieht?«
    »Hmhm. Jetzt mal zu Orrin. Wir haben ihn jetzt in Kalifornien und in Bay City. Was machen wir jetzt mit ihm?«
    Sie überlegte einen Moment mit gerunzelter Stirn. Dann prüfte sie mein Gesicht, als ob sie einen Entschluß faßte. Dann brachen die Worte aus ihr heraus: »Es sah Orrin gar nicht ähnlich, nicht regelmäßig zu schreiben. Er hat in den letzten sechs Monaten nur zweimal an Mutter und dreimal an mich geschrieben. Und der letzte Brief kam vor einigen Wochen. Mutter und ich machten uns Sorgen. Und dann hatte ich Urlaub, und ich kam her, um ihn zu besuchen. Er war vorher nie von Kansas weg gewesen.« Sie unterbrach sich. »Machen Sie sich keine Notizen?« fragte sie.
    Ich knurrte.
    »Ich dachte, Detektive würden immer irgendwas in kleine Notizbücher schreiben.«
    »Für die Gags sorge ich schon«, sagte ich. »Sie erzählen die Story. Also, Sie hatten Urlaub und kamen hierher. Und weiter?«
    »Ich hatte Orrin geschrieben, daß ich kommen würde, aber ich bekam keine Antwort.
    Ich schickte ihm ein Telegramm aus Salt Lake City, aber darauf antwortete er auch nicht. Also konnte ich nichts weiter tun, als hinfahren, wo er wohnte. Es ist ein furchtbar langer Weg. Ich fuhr mit einem Bus. Es ist in Bay City. Idaho Street Nr. 449.«
    Sie hielt wieder an, wiederholte dann die Adresse, und ich schrieb sie noch immer nicht auf. Ich saß einfach da, betrachtete ihre Brille, ihr weiches braunes Haar, ihren Mund ohne Lippenstift und die Zungenspitze, die zwischen den blassen Lippen hervorkam und wieder verschwand.
    »Vielleicht kennen Sie Bay City nicht, Mr. Marlowe.«
    »Haha«, sagte ich. »über Bay City weiß ich bloß so viel, daß ich mir jedesmal einen neuen Kopf kaufen muß, wenn ich hinfahre. Soll ich Ihnen das Ende von Ihrer Story erzählen?«
    »Waa-as?« Ihre Augen wurden so groß, daß sie durch ihre Brille aussahen wie so was, was man in einem Tiefseeaquarium sieht.
    »Er ist weggezogen«, sagte ich. »Und Sie wissen nicht, wohin er gezogen ist. Und Sie haben Angst, daß er ein lasterhaftes Leben führt, in einer Luxuswohnung auf dem Dach der Regency Towers, in der Gesellschaft von einem Etwas mit einem langen Nerzmantel und einem interessanten Parfüm.«
    »Also wirklich, um Himmels willen!«
    »Oder bin ich frech?«
    »Bitte, Mr. Marlowe«, sagte sie schließlich, »so etwas glaube ich überhaupt nicht von Orrin. Und wenn Orrin das hörte, würde es Ihnen leid tun. Er kann furchtbar böse werden. Aber ich weiß: irgendwas ist passiert. Es war nur eine billige Pension, und den Verwalter mochte ich überhaupt nicht. Ein gräßlicher Kerl. Er sagte, Orrin
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