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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester
Autoren: Raymond Chandler
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daß ich Sie nehmen werde. Wenn Sie andeuten wollen, daß Orrin etwas Schlimmes gemacht hat - also, ich kann Ihnen versichern, Orrin ist nicht das schwarze Schaf in unserer Familie.«
    Ich zuckte mit keiner Wimper. Sie machte kehrt und marschierte zur Tür und legte die Hand auf den Drehgriff, und dann machte sie wieder kehrt und marschierte zurück, und plötzlich fing sie an zu weinen. Ich reagierte darauf genauso wie ein ausgestopfter Fisch auf geschnibbelten Köder reagiert. Sie zog ihr kleines Taschentuch raus und betupfte ihre Augenwinkel.
    »Und jetzt, nehme ich an, werden Sie die P-Polizei rufen«, sagte sie mit stockender Stimme. »Und die Z-Zeitung von Manhattan wird alles rauskriegen, und sie werden Sch-Schlimmes über uns bringen.«
    »Sie nehmen das überhaupt nicht an. Hören Sie auf, an meinen Gefühlen herumzuzerren. Zeigen Sie mal ein Foto von ihm.«
    Sie streckte ganz schnell ihr Taschentuch weg und zog etwas anderes aus ihrer Tasche. Sie reichte es über den Tisch. Einen Umschlag. Dünn, aber ein paar Schnappschüsse konnten drin sein. Ich schaute nicht hinein.
    »Beschreiben Sie ihn, wie Sie ihn im Kopf haben«, sagte ich.
    Sie konzentrierte sich. So hatte sie eine Gelegenheit, mit ihren Augenbrauen Theater zu machen. »Im vergangenen März war er achtundzwanzig Jahre alt. Er hat hellbraunes Haar, viel heller als meines, und hellere Augen, und er bürstet sich das Haar gerade nach hinten. Er ist sehr groß, über 1.80. Aber er wiegt nur ungefähr hundertdreißig Pfund. Er ist irgendwie knochig. Früher trug er einen kleinen blonden Schnurrbart, aber Mutter sorgte dafür, daß er ihn abschnitt. Sie sagte ... «
    »Lassen Sie's gut sein. Der Pfarrer brauchte ihn als Kissenfüllung.«
    »Sie können nicht so über meine Mutter reden«, schrillte sie und wurde blaß vor Wut.
    »Ach, hören Sie doch auf mit dem Blödsinn. Es gibt 'ne Menge Sachen, die ich von Ihnen nicht weiß. Aber Sie können jetzt aufhören, das Maiglöckchen zu spielen. Hat Orrin irgendwelche besonderen Merkmale, wie Muttermale oder Narben, oder den dreiundzwanzigsten Psalm auf die Brust tätowiert? Und machen Sie sich nicht die Mühe, rot zu werden. «
    »Sie brauchen mich nicht anzuschreien. Warum sehen Sie das Foto nicht an? «
    »Er wird wohl seine Kleider anhaben. Schließlich sind Sie seine Schwester. Sie müßten es wissen.«
    »Nein, hat er nicht«, sagte sie knapp. »Er hat eine kleine Narbe auf der linken Hand, wo man ihm eine Warze weggemacht hat.«
    »Wie steht's mit seinen Angewohnheiten? Was für Vergnügungen hat er - außer Nicht-rauchen, Nicht-trinken und Nicht-mit-Mädchen-gehen?«
    »Aber - woher wissen Sie denn das?«
    »Hat Ihre Mutter mir erzählt.«
    Sie lächelte. Ich fragte mich langsam, ob sie vielleicht eine Maske hatte. Sie besaß sehr gleichmäßige weiße Zähne, und sie zeigte ihr Zahnfleisch nicht. Das war schon etwas.
    »Was sind Sie albern«, sagte sie. »Er lernt viel, und er hat eine sehr teure Kamera, und damit macht er gern Schnappschüsse von Leuten, wenn sie es nicht merken. Sie werden manchmal wütend darüber. Aber Orrin sagt, die Leute müßten sich mal sehen, wie sie wirklich sind.«
    »Hoffen wir, daß ihm das nicht passiert«, sagte ich. »Was für eine Kamera ist es denn?«
    »Einer von diesen kleinen Apparaten mit einer sehr guten Linse. Man kann fast bei jedem Licht knipsen. Eine Leica.«
    Ich öffnete das Kuvert und nahm ein paar kleine Abzüge heraus, sehr scharf. »Die wurden aber nicht mit so was aufgenommen«, sagte ich.
    »Aber nein. Die hat Philip gemacht, Philip Anderson. Ein Junge, mit dem ich mal eine Weile gegangen bin.« Sie schwieg einen Moment und seufzte. »Und ich glaube, deshalb bin ich wirklich hergekommen, Mr. Marlowe. Einfach, weil Sie auch Philip heißen.«
    Ich sagte nur: »Aha«, aber irgendwie berührte es mich. »Was passierte mit Philip Anderson?«
    »Aber es geht um Orrin ... «
    »Weiß ich«, fuhr ich dazwischen. »Aber was passierte mit Philip Anderson?«
    »Er ist immer noch in Manhattan.« Sie blickte zur Seite. »Mutter mochte ihn nicht so gern. Vielleicht wissen Sie, wie das ist.«
    »Ja«, sagte ich. »Ich weiß, wie das ist. Wenn Sie wollen, können Sie ein bißchen weinen. Ich werde es nicht gegen Sie verwenden. Ich bin auch nur ein großes Tränentier.«
    Ich betrachtete die beiden Bilder. Eines davon guckte nach unten und half mir nichts.
    Das andere war ein ganz ordentliches Bild von einem großen, linkischen, vogeligen Typ mit engstehenden
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