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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester
Autoren: Raymond Chandler
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Hand. Ich riß ein Streichholz an, hielt die Flamme dran, ließ das brennende Negativ in den Aschenbecher fallen und sah zu, wie es in einer Stichflamme verbrannte.
    Sie erstarrte, steif vor Entsetzen. Ich fing an, die Bilder in Fetzen zu reißen. Ich grinste sie an.
    »Ein kleiner Schnüffler«, sagte ich. »Bitte, was wollen Sie denn? Ich habe keine Brüder oder Schwestern zu verkaufen. Ich verkaufe meine Klienten.«
    Sie stand steif, mit brennenden Augen. Ich beendete meine Reißwolf-Arbeit und schob die Fetzen in den Aschenbecher.
    »Nur eines bedaure ich«, sagte ich. »Daß ich nicht sehen kann, wie Sie ankommen in Manhattan, Kansas, bei der lieben alten Mutti. Daß ich nicht sehen kann, wie Sie sich den Tausender teilen. Das wäre sicher schön anzusehen.«
    Ich stocherte mit einem Bleistift in dem Papierhaufen im Aschenbecher, damit es' gut brannte. Sie kam langsam, schrittweise, an den Schreibtisch; ihre Augen hafteten fest an dem glimmenden kleinen Haufen zerrissener Bilder.
    »Ich könnte es der Polizei erzählen«, flüsterte sie. »Ich könnte ihnen viel erzählen. Mir würden sie glauben.«
    »Ich könnte ihnen erzählen, wer Steelgrave erschossen hat«, sagte ich. »Weil ich weiß, wer es nicht war. Mir könnten sie auch glauben.«
    Der kleine Kopf bog sich ruckartig zurück. Das Licht funkelte auf den Gläsern. Dahinter waren keine Augen.
    »Keine Angst«, sagte ich, »ich mache es nicht. Mich würde es nicht genug kosten. Und jemand anders würde es zuviel kosten.«
    Das Telefon klingelte, und sie fuhr zusammen. Ich drehte mich um, griff danach, drückte mein Gesicht daran und sagte: »Hallo.«
    »Amigo, geht's Ihnen gut?«
    Im Hintergrund war ein Geräusch. Ich wandte mich schnell um und sah, wie die Tür zugezogen wurde. Ich war allein im Raum.
    »Alles in Ordnung, Amigo?«
    »Ich bin müde. Ich war die ganze Nacht auf. Abgesehen von ... «
    »Hat die Kleine Sie angerufen?«
    »Die kleine Schwester? Sie war gerade noch hier. Sie ist auf dem Weg zurück nach Manhattan mit der Beute.«
    »Der Beute?«
    »Na, mit dem Taschengeld, das sie von Steelgrave bekam, weil sie ihren Bruder ausgeliefert hat.«
    Eine Stille kam, dann sagte sie ernst: »Das können Sie ja gar nicht wissen, Amigo.«
    »Ich weiß es, so wie ich hier an diesem Schreibtisch sitze und mich am Telefon festhalte. So wie ich weiß, daß ich Ihre Stimme höre. Und nicht ganz so gewiß, aber sicher genug, wie ich weiß, wer Steelgrave erschossen hat.«
    »Sie sind ziemlich unvorsichtig, mir das zu sagen, Amigo. Ich bin kein Engel. Sie sollten mir nicht so sehr vertrauen.«
    »Ich mache Fehler, aber das wäre keiner. Ich habe alle Fotos verbrannt. Ich versuchte, sie Orfamay zu verkaufen. Sie wollte mir nicht genug geben.«
    »Sie machen sich sicher lustig, Amigo.«
    »So? Über wen denn?«
    Ihr Lachen kam glockenartig durch den Draht. »Würden Sie mit mir essen gehen?«
    »Warum nicht? Sind Sie zu Hause?«
    »Si.«
    »Ich komme bald rüber.«
    »Das freut mich aber wirklich.«
    Ich legte auf.
    Das Spiel war zu Ende. Ich saß im leeren Theater. Der Vorhang war zu, und schwach darauf projiziert sah ich die Handlung. Aber schon wurden einige der Schauspieler undeutlich und unwirklich. Vor allem die kleine Schwester. In ein paar Tagen würde ich vergessen haben, wie sie aussah. Denn sie war ja auch unwirklich. Ich dachte an sie, wie sie zurückzockelte, nach Manhattan, Kansas, zur lieben alten Mutti, mit den dicken fetten tausend Dollar in ihrer Börse. Ein paar Leute mußten getötet werden, damit sie sie bekam, aber das würde ihr sicher nicht lange zu schaffen machen. Ich dachte an sie, wie sie morgens in das Büro ging wie hieß der Mann noch? Richtig, Dr. Zugsmith -
    und wie sie seinen Schreibtisch abstaubte, bevor er kam, und die Zeitschriften im Wartezimmer ordnete. Sie würde dann ihre randlose Brille tragen, ein einfaches Kostüm, das Gesicht ohne Make-up, und ihr Umgang mit den Patienten würde äußerst korrekt sein.
    »Dr. Zugsmith wartet auf Sie, Mrs. Soundso.« Sie würde die Tür aufhalten, mit einem kleinen Lächeln, Mrs. Soundso würde an ihr vorbeigehen, und Dr. Zugsmith würde hinter dem Schreibtisch sitzen und ungeheuer fachmännisch aussehen mit einem weißen Kittel und dem Stethoskop, das ihm vom Hals runterhing. Eine Patientenakte lag vor ihm, und sein Notizbuch und sein Rezeptblock lagen schon säuberlich nebeneinander.
    Nichts, was Dr. Zugsmith nicht wußte. Ihn konnte man nicht täuschen. Er hatte es in seinen
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