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Die kleine Schwester

Die kleine Schwester

Titel: Die kleine Schwester
Autoren: Raymond Chandler
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Fingerspitzen. Wenn er einen Patienten betrachtete, dann kannte er schon die Antworten auf alle Fragen, die er der Form halber stellte.
    Wenn er seine Arzthelferin, Miss Orfamay Quest, betrachtete, dann sah er eine nette, ruhige junge Frau, angezogen, wie es sich für eine Arztpraxis gehörte, keine roten Fingernägel, kein grelles Make-up, nichts, was einen konservativen Kunden erschrecken konnte. Eine ideale Arzthelferin. Miss Quest. Wenn Dr. Zugsmith an sie dachte, dann mit Selbstzufriedenheit. Er hatte aus ihr gemacht, was sie war. Sie war genau das, was der Doktor verordnet hatte. Sehr wahrscheinlich hatte er ihr noch keinen unzüchtigen Antrag gemacht. Vielleicht machen sie das nicht in den kleinen Städten. Haha! Ich war in so einer Stadt aufgewachsen.
    Ich setzte mich anders hin, sah auf meine Uhr, und dann holte ich endlich die Flasche Old Forester aus dem Fach. Ich roch dran. Es roch gut. Ich goß mir einen kräftigen Schuß ein und hielt ihn gegen das Licht.
    »Hören Sie, Dr. Zugsmith«, sagte ich laut, so als ob er auf der anderen Seite des Schreibtisches säße, mit einem Glas in der Hand, »ich kenne Sie nicht sehr gut, und Sie kennen mich gar nicht. Normalerweise gebe ich Fremden keine Ratschläge, aber ich bekam eine kurze, aber kräftige Lektion von Miss Orfamay Quest, und deshalb breche ich meine eigene Regel. Wenn dieses kleine Mädchen mal irgendwas von Ihnen haben will, geben Sie's ihr schnell. Stehen Sie nicht rum und brabbeln über Ihre Einkommensteuer und Ihre Unkosten. Legen Sie nur ein Lächeln auf und rücken Sie's raus. Lassen Sie sich nicht auf irgendwelche Diskussionen ein, wem was gehört.
    Sorgen Sie dafür, daß das kleine Mädchen zufrieden ist, das ist die Hauptsache. Viel Glück, Doktor, und lassen Sie keine Harpunen in der Praxis herumliegen.«
    Ich trank die Hälfte von meinem Drink und wartete, daß er mich warm machte. Danach trank ich die andere Hälfte und steckte die Flasche weg. Ich klopfte die alte Asche aus meiner Pfeife und füllte sie wieder aus einem ledernen Frischhaltebeutel, den mir ein Bewunderer zu Weihnachten geschenkt hatte; der Bewunderer hieß zufällig genau wie ich.
    Nach dem Füllen zündete ich die Pfeife an, sorgsam, ohne Eile, und dann ging ich hinaus und durch den Korridor, forsch und mannhaft wie ein Engländer nach der Tigerjagd.

34
    Das Chateau Bercy war alt, aber renoviert. Es hatte eine Lobby, in die Gummibäume und Plüsch gehört hätten; statt dessen gab es Glasziegel, indirekte Beleuchtung, dreieckige Glastische. Sie sah aus, als hätte ein Kurzurlauber aus der Klapsmühle sie ausgestattet. Die Farbgebung war Gallegrün, Leinsamenmusbraun, Trottoirgrau und Affenhinternblau. Es wirkte so erquickend wie eine geplatzte Lippe.
    Die kleine Theke war leer, aber der Spiegel dahinter konnte durchsichtig sein, deshalb versuchte ich lieber nicht, zur Treppe zu schleichen. Ich läutete, und ein dicker, weicher Mann quoll von hinten hervor und lächelte mich an, mit feuchten weichen Lippen, bläulich weißen Zähnen und unnatürlich hellen Augen.
    »Miss Gonzales, bitte«, sagte ich. »Heiße Marlowe. Sie erwartet mich.«
    »Aber gewiß«, sagte er gestenreich. »Sicher, gewiß. Ich rufe sofort hinauf.«
    Seine Stimme gestikulierte auch.
    »Ja, Mr. Marlowe. Miss Gonzales sagt, Sie sollen gleich raufkommen. Apartment 412.«
    Er kicherte. »Aber Sie wissen das wohl. «
    »Jetzt weiß ich's«, sagte ich. »Übrigens, waren Sie letzten Februar hier?«
    »Letzten Februar? Letzten Februar? O ja, letzten Februar war ich hier.« Er buchstabierte es förmlich.
    »Wissen Sie noch - die Nacht, als Stein hier draußen getötet wurde?«
    Das Lächeln verschwand eilig aus dem fetten Gesicht. »Sind Sie ein Polizeibeamter?«
    Seine Stimme war jetzt dünn und quietschig.
    »Nein. Aber Ihre Hose ist offen, wenn Sie erlauben.«
    Er sah entsetzt nach unten und zog den Reißverschluß hoch - seine Hände zitterten fast.
    »Oh, vielen Dank«, sagte er. »Ich danke Ihnen.« Er beugte sich über die Theke. »Es war nicht hier draußen«, sagte er. »Also nicht genau. Es war fast an der nächsten Ecke.«
    »Er lebte hier, stimmt's?«
    »Ich möchte lieber nicht darüber sprechen. Wirklich, ich möchte nicht drüber sprechen.«
    Er hielt inne und wischte sich mit seinem Taschentuch über die Unterlippe. »Warum fragen Sie? «
    »Bloß, damit Sie weitersprechen. Sie sollten ein bißchen vorsichtiger sein, Mann. Ich rieche es an Ihrem Atem.«
    Die Röte ergoß sich über sein
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