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Die Kinder von Avalon (German Edition)

Die Kinder von Avalon (German Edition)

Titel: Die Kinder von Avalon (German Edition)
Autoren: Helmut W. Pesch
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getraut, sie auszusprechen. Jetzt hatte ihre Mutter die undankbare Rolle übernommen, und ihr Vater, der das Lenkrad mit beiden Händen umklammerte, warf einen giftigen Blick nach links, in Richtung Beifahrersitz.
    »Das werden wir schon sehen«, knurrte er.
    Wenn man durch die Wagenfenster der rechten Seite blickte, starrte man auf eine grüne Wand, die vorbeirauschte, scheinbar zum Greifen nahe. Die Wand aus Buschwerk ragte senkrecht bis in etwa vier Meter Höhe empor, um sich dann nach innen zu wölben. Auf der linken Seite sah es nicht anders aus. Es war, als führen sie durch einen grünen Tunnel, der kein Ende nehmen wollte.
    »Wenn du wenigstens nicht so rasen würdest«, sagte Gunhilds Mutter.
    »Ich rase nicht. Ich fahre höchstens sechzig. Es sieht nur so aus, weil die Straße so eng ist.«
    Seit sie am Morgen von Heathrow Airport mit dem Mietwagen losgefahren waren, hatte sich Gunhild immer tiefer in ihren Sitz eingeigelt. Ihr war irgendwie mulmig zumute, und das seltsame Gefühl verstärkte sich, je weiter sie nach Westen kamen. Auf dem Motorway, unter dem freien Himmel, war es nicht so schlimm gewesen. Aber seit sie die Autobahn verlassen hatten und in dieses Labyrinth von gewundenen, überwachsenen Straßen eingedrungen waren, hatte sie den Eindruck, als würde die Welt ringsum immer enger. Ihr war, als hätte sie nicht mehr genug Luft zum Atmen, und das Schlimmste war, dass keiner etwas davon zu bemerken schien.
    »Könntest du nicht vielleicht wenigstens mal jemanden nach dem Weg fragen?«, ließ Gunhilds Mutter nicht locker.
    »Ach ja?«, gab Vater gereizt zurück. »Und wen, bitte? Siehst du hier irgendjemanden?«
    Falsch, liebe Mutter, dachte Gunhild. Männer fragen grundsätzlich nicht nach dem Weg. Das solltest du doch eigentlich wissen.
    Sie hob den Kopf. Das eigentlich Schreckliche an dieser Geisterfahrt waren weniger die grünen Buschwerkwände; an die konnte man sich gewöhnen. Es war der Gedanke, dass hinter jeder Biegung ein riesiger Lastwagen auftauchen könnte, der den ganzen verfügbaren Raum für sich einnahm. Und dann – peng! Keine Zeit mehr für weitere Gedanken.
    Gunhilds Hand schloss sich unwillkürlich um den geschliffenen Stein, den sie an einer Kette um ihren Hals trug. Der Anhänger war schon so lange ein Teil von ihr selbst, dass er ihr meist gar nicht bewusst war. Doch mit diesem Stein hatte es eine besondere Bewandtnis. Er war ihr Schlüssel zu einer anderen Welt – einer Welt, die sie nur in ihren Träumen besuchte. Wenn man sie gefragt hätte, woher sie diesen Kristall hatte, sie hätte es nicht sagen können, und doch wusste sie es genau. Es war ein Geheimnis, das sie nur mit ihrem Bruder teilte – und natürlich mit Hagen.
    Ihre Gedanken schweiften ab. Sie hatte Hagen, ihrem Freund aus Manchester, geschrieben, dass sie wieder nach England kommen würde und hoffte, ihn dort zu sehen. Er hatte ihren Brief nicht beantwortet. Sie hatte sogar versucht, ihn anzurufen, aber auf der anderen Seite der Leitung hatte nur eine Automatenstimme in englischer Sprache geantwortet, der sie gerade so viel entnehmen konnte, dass der Anschluss nicht mehr existierte. Sie wusste nicht, ob sie traurig sein oder sich Sorgen machen sollte. Und wie immer, wenn sie sich über ihre Gefühle nicht im Klaren war, gab der Kristall, ihr Talisman, ihr Kraft.
    Sie spähte voraus in das Halbdunkel. Der Blick reichte nur zwanzig, dreißig Meter, dann bog die Straße bereits außer Sicht. Gunhild wollte sich schon wieder in die Kunstledersitze zurücksinken lassen, als sie die kleine braune Gestalt bemerkte, die am Rande des Weges entlangging. Sie schien etwas auf dem Rücken zu tragen.
    »Da!«, krächzte sie. Ihre Stimme klang kratzig, weil sie so lange nicht benutzt worden war. »Da geht jemand.«
    Ihre Mutter blickte auf. Eine steile Falte stand auf ihrer Stirn. »Und du hältst jetzt an und fragst den Mann da«, sagte sie energisch. »Bevor wir noch weiter ins Blaue hineinfahren.«
    Ins Grüne, verbesserte Gunhild im Stillen. Der Gedanke erfüllte sie mit einer widersinnigen Heiterkeit. Sie musste sich auf die Lippen beißen, um nicht laut loszukichern.
    Ihr Vater knurrte etwas Undefinierbares, nahm aber den Fuß vom Gas und ließ den Wagen langsamer werden. In demselben Maße, in dem der fremde Fußgänger näher kam, erkannte Gunhild mehr Einzelheiten. Es war ein alter Mann, ganz in Braun gekleidet. Er trug eine Art Rucksack auf dem Rücken, eine Kiepe aus Weidengeflecht. Seinen braunen Schlapphut
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