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Die Kinder der Nibelungen (German Edition)

Die Kinder der Nibelungen (German Edition)

Titel: Die Kinder der Nibelungen (German Edition)
Autoren: Helmut W. Pesch
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Abzweigung. Die Göttin Freya, die mit allem in der Anderswelt vergangen war, hatte ihnen diesen letzten unschätzbaren Dienst erwiesen. Ohne ihre Hilfe wären die Kinder nie so weit gekommen.
    Schließlich erreichten sie die Kammer, in der Odin sie erwartet hatte. Fast glaubte Siggi, noch einmal das spöttisch lächelnde Gesicht des Grauen zu sehen, das eine Auge fest auf sie gerichtet. Hier hatten sie die Höhlen der Anderswelt betreten. Hier würden sie das Schattenreich wieder verlassen, aber sie würden nie mehr ganz dieselben sein.
    Gunhild, die an der Spitze lief, hielt so plötzlich an, dass die anderen fast auf sie aufgelaufen wären.
    »What -?«, keuchte Hagen, und: »Was ist los?«, fragte Siggi.
    »Seht doch!«
    Zwischen ihnen und dem Ausgang hockten drei Gestalten. Sie waren in lange, dunkle Gewänder gekleidet, mit einer Art Schleier oder Kopftuch über den Häuptern, so dass man ihre Gesichter nicht erkennen konnte. Doch sie bewegten sich mit der Bedächtigkeit uralter Frauen.
    Die eine hielt einen Stab in der Hand, der mit einer Art Wollknäuel umwickelt war. Die zweite spulte daraus eine Schnur hervor, die im ungewissen Licht silbrig glänzte; es lag etwas Hypnotisches in diesem Glanz, und es schien nicht nur ein einziger Faden zu sein, sondern ein ganzer verwirrend geflochtener Strang. Die dritte nahm den Faden, und immer nachdem sie eine Elle abgemessen hatte, schnitt sie ihn ab und ließ die Stücke zu Boden flattern.
    Die erste der drei sang mit dünner Stimme:
    »Ich seh’ aufsteigen /zum andern Male
Land aus Tiefen, / im Tau ergrünend;
Fälle schäumen, / es schwebt der Aar,
der auf dem Felsen/nach Fischen weidet.«
    »Das müssen die Nornen sein«, sagte Siggi, »die am Fuß des Weltenbaums das Schicksal der Götter und Menschen gesponnen haben. Jetzt sind sie hier.«
    Sang die zweite:
    »Auf dem Idafelde /die Asen sich finden
Und reden dort / vom riesigen Wurm,
gedenken da / der großen Dinge
und alter Runen / im neuen Rate.«
    »Sie singen von einem neuen Anfang und einer neuen Erde, wo die Asengötter herrschen werden«, flüsterte Gunhild.
    Und die dritte sang:
    »Unbesät werden / Acker tragen;
Böses wird besser: / Baldur kehrt heim;
Thor und Loki / leben mit Odin
In der Walgötter Halle – wisst ihr noch mehr?«
    Der Faden, endlos gesponnen, zuckte im Zwielicht.
    »Wie kommen wir da vorbei?«, fragten Siggi und Gunhild gleichzeitig.
    »Kommt«, sagte Hagen und fasste sie beide an der Hand. »Das ist nur Lüge und Illusion. Glaubt mir, davon versteh’ ich was.«
    Festen Schrittes ging er auf die drei Spinnerinnen zu, Siggi und Gunhild mit sich ziehend. Und als sie die Stelle erreicht hatten, verzerrte sich das Bild wie der Spiegel einer Wasserfläche, wenn ein Wind darüberweht, und war verschwunden.
    »Es riecht nach Wald«, sagte Gunhild.
    Sie traten aus der Kammer hinaus und standen in der tunnelartigen Röhre, durch die sie hergekommen, und kaum hatten sie die Kammer verlassen, roch Siggi auch schon die würzige Waldluft.
    Alle drei standen nebeneinander und atmeten tief ein und aus. Sie hatten es geschafft. Midgard – die Erde – hatte sie wieder.
    Siggi wandte sich kurz um. Wo sie vor Augenblicken noch durchgeschlüpft waren, befand sich nur noch der massive graue Fels. Da war keine Pforte mehr, die in die Anderswelt führte. Das Tor war ein für alle Male verschlossen.
    »Seht«, sagte Siggi und deutete auf den Fels, und alle drei sahen die glatte Wand grauen Gesteins, hinter dem die Anderswelt begann.
    Sie gingen ins Freie. Frische, kühle vom Gewitter des gestrigen Abends gereinigte Luft empfing sie. Vor ihnen der Wald und am Himmel die Ahnung, dass hinter den Bäumen die Sonne gerade über dem Horizont erschienen war.
    Die Vögel zwitscherten ihr Morgenlied, und selten hatte Siggi dies so genossen wie in diesem Augenblick. Er glaubte, den Gesang der gefiederten Freunde hundert Jahre nicht mehr gehört zu haben.
    »Wir sollten uns beeilen«, sagte Gunhild. »Die suchen bestimmt schon nach uns.«
    »Das gibt Ärger«, meinte Hagen düster.
    »Nicht solange Mjölnir mit mir ist«, sagte Siggi großspurig, aber als sein Griff zum Gürtel ging, war da kein Hammer mehr. Eisiger Schrecken durchfuhr ihn.
    »Was ist?«, fragte Hagen. »Wo ist dein Hammer?«
    Siggi sah an sich herunter. Statt des Hammers hing eine Kette aus seinem Gürtel heraus. Der Junge zog daran, und ein bronzenes Amulett kam zum Vorschein, in der Form eines Hammers, nicht größer als seine
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