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Die Kinder der Nibelungen (German Edition)

Die Kinder der Nibelungen (German Edition)

Titel: Die Kinder der Nibelungen (German Edition)
Autoren: Helmut W. Pesch
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was?«, lauerte Siggi. »Das ist ein toller Zufall, nicht?«
    Hagen sah ein paar Augenblicke drein, als wüsste er nicht, was er sagen sollte. Er schien immer noch Schwierigkeiten mit dem altertümlichen Deutsch zu haben, aber dann ging ihm ein Licht auf.
    »Klar! Die Nibelungen! Siegfried, der Drachentöter, wurde von Hagen mit dem Speer getötet. Und du heißt Siggi, richtig eigentlich Siegfried, und ich Hagen. Was für ein komischer Zufall!«
    Hagen lachte. Es war in der Tat ein Zufall, dass er über tausend Kilometer mit Schiff und Bahn hierhergefahren war, um seinen Namen auf einer alten Steinplatte zu finden.
    Die beiden Geschwister stimmten in das Gelächter ein.
    Als sie vor Jahren das erste Mal an diesen Brunnen gekommen war, hatten sie diese Schrift auch nicht lesen können. Doch dann hatte Gunhild, die so etwas in der Schule gelernt hatte, das Ganze mit einem Blatt Papier und einem Bleistift durchgerieben, und sie hatten es ihrem Vater gezeigt.
    Aber auch als der Vater den Text laut gelesen hatte, konnten sie die verschrobene, altertümliche Sprache nicht sofort verstehen. Der Vater hatte es dann in verständliches Deutsch übersetzen müssen. Dann hatte er ihnen noch einiges erklärt, was mit diesem Brunnen zusammenhing. Und wenn Siggi sich recht erinnerte, hatte die Mutter ihnen am Abend zum ersten Mal die Geschichte von den Nibelungen erzählt: wie der heldenhafte Siegfried, der den Drachen erschlagen hatte, durch ein Bad im Drachenblut unverwundbar geworden war – ›hürnern‹, das heißt: wie aus Horn; bis eben auf diese winzige Stelle, wo ein Lindenblatt auf seine Haut gefallen war – und wie er beim Trinken an einer Quelle von Hagen mit dem Speer getötet wurde. Bis dahin hatte Siggi die Geschichte gefallen, aber als danach Kriemhild ihre blutige Rache vollzog, hatte er das Interesse verloren; denn der Held, der seinen Namen trug, war ja tot.
    Siegfried war sehr stolz auf seinen richtigen Namen, und es hatte etwa einen Monat gedauert, bis man ihn wieder ›Siggi‹ nennen durften. Aber wenn man schon mal einen Drachentöter zum Namensvetter hat …
    Seit diesem denkwürdigen ersten Mal waren Siggi und Gunhild immer wieder zu diesem Brunnen gegangen, wenn sie im Wald waren. Etwas hatte sie hierhergezogen; sie wussten selbst nicht genau, was es war.
    Es gab schönere Stellen im Wald, aber hier wurde man beim Spielen nur selten von Wanderern und Touristen gestört.
    Und jetzt, da ihr Sommergast aus dem fernen England gekommen war, war die Versuchung einfach zu groß gewesen.
    »Deshalb haben wir dich hierher gebracht«, antwortete Gunhild.
    »Und wie hieß noch mal die Frau in der Geschichte?«, fragte Hagen unvermittelt und sah dabei Gunhild an.
    »Kriemhild«, sagten Siggi und Gunhild wie aus einem Mund.
    »Oder auch Gudrun«, meinte Hagen.
    Hagen ging wieder auf den Brunnen zu, als würde er magisch davon angezogen. Er berührte die Steinplatte, dann sah er zu den Bäumen auf.
    »Linden gibt es hier auch«, stellte er fest. »Ist das die Stelle, wo …?«
    »Ach, nee. Es gibt viele Siegfriedsquellen und -brunnen hier in der Umgebung«, begann Siggi. »Sieh dir die Inschrift an. Die ist aus dem letzten Jahrhundert, sagt Vati, und der ist Architekt, der versteht was davon. Damals hat man die Nibelungen und alles Germanische mit einem Heiligenschein belegt. Man wollte damit die Nation erhöhen, oder so was«, gab Siggi die Erklärungen seines Vaters wieder. »In diese Zeit fällt auch die große Oper von Richard Wagner. Ich hab’ mal versucht, mir Siegfried anzuhören; die Oper, mein’ ich. Hat mir aber nicht gefallen.«
    Hagen nickte und sah wieder auf den Brunnen.
    »Du wirst«, sagte Siggi mit einem Grinsen, »mich doch nicht gleich erschlagen?«
    Hagen drehte sich um. Die Atmosphäre schien sich für einen Moment zu verdüstern. Irgendetwas geschah mit Hagen. In Siggis Augen schien er zu wachsen; sein Lächeln wirkte bedrohlich.
    »Einmal ist keinmal«, kam es aus Hagens Mund, doch Siggi schien es, als spräche nicht der neue Freund, sondern jemand anderes. Selbst seine Stimme schien viel tiefer zu sein, als Siggi sie in Erinnerung hatte.
    Hagen kam auf ihn zu, die Faust erhoben. In Siggi kroch die Angst hoch. Auch er ballte seine Fäuste, mehr aus Hilflosigkeit und Furcht als aus Zorn.
    Gunhild war verwirrt; sie empfand nicht das Gleiche wie Siggi, aber sie fühlte, dass sich etwas verändert hatte. Sie sah Hagen, wie er auf Siggi zuging. Er wirkte irgendwie unheimlich, obwohl er lächelte.
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