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Die Jungfrau Im Eis

Die Jungfrau Im Eis

Titel: Die Jungfrau Im Eis
Autoren: Ellis Peters
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Freund, dessen Frau und das Kind, das bald geboren werden würde, das Kind dieses Winters.
    England, das wußte er, war schon seit Jahren im bitteren Frost eines Winters gefangen. König Stephen besaß die Krone und gebot, wenn auch nicht gerade energisch, über den größten Teil des Landes. Den Westen beherrschte Kaiserin Maud, seine Rivalin, und ihr Anspruch auf den Thron war dem seinen ebenbürtig. Obwohl sie Geschwisterkinder waren, verband sie doch alles andere als geschwisterliche Liebe. In ihrem Kampf um die Macht wurde England zerrissen, und doch mußte das Leben, das Festhalten am Glauben, das zähe Ringen mit dem Schicksal weitergehen, mußte das Land jahrein, jahraus bearbeitet werden. Pflug und Egge durften nicht ruhen, und um Saat und Ernte der Früchte des Bodens mußte man sich ebenso kümmern wie hier, in Kloster und Kirche, um Saat und Ernte der Seelen. Was immer das Los einzelner Menschen war - um das Schicksal der Menschheit sorgte Bruder Cadfael sich nicht. Hughs Kind würde zu einer neuen Generation gehören, ein neuer Anfang, eine neue Bestätigung sein - ein Frühlingsanfang zur Wintersonnenwende.
    Am letzten Tag im November erschien Bruder Herward, Unterprior des Benediktinerklosters von Worcester, bei der Versammlung der Mönche im Kapitelsaal des Bruderklosters St. Peter und St. Paul in Shrewsbury. Er war in der vorangegangenen Nacht angekommen und als Ehrengast in Abt Radulfus' Räumen untergebracht worden. Die meisten Brüder wußten nichts von seiner Ankunft und fragten sich, wer dieser Mann wohl sein mochte, der hier so höflich vom Abt persönlich hineingeleitet wurde und zu seiner Rechten Platz nahm. Und diesesmal wußte auch Bruder Cadfael nicht mehr als sie.
    Der Abt und sein Gast waren sehr verschieden. Radulfus war hochgewachsen und hatte eine aufrechte, energische Körperhaltung. Sein ernstes, scharfgeschnittenes Gesicht strahlte die Gelassenheit des Gelehrten aus. Wenn nötig konnte er aufbrausen, und die Betroffenen taten gut daran, sich demütig zu ducken, aber immer hatte er die Gewalt seines Temperaments unter Kontrolle. Der Mann an seiner Seite war klein und schmächtig. Er hatte eine graue Tonsur und wirkte immer noch erschöpft von der Reise, aber seine alten Augen blickten offen, und die Falten um seinen Mund verrieten Standfestigkeit und Geduld.
    »Unser Bruder, Unterprior Herward aus Worcester«, sagte der Abt, »ist in einer Sache zu uns gekommen, in der ich ihm nicht zu helfen vermag. Da viele von euch hier sich um die Unglücklichen aus der Stadt gekümmert haben, die bei uns Zuflucht fanden, ist es vielleicht möglich, daß ihr etwas von ihnen erfahren habt, das dieser Sache dienlich ist. Daher habe ich ihn gebeten, sein Anliegen vor euch allen noch einmal vorzubringen.«
    Der Gast erhob sich, damit ihn alle besser sehen und hören konnten. »Man hat mich geschickt, um Nachforschungen über den Verbleib zweier adliger Kinder anzustellen, die der Obhut unseres Benediktinerklosters übergeben waren und flohen, als der Angriff auf die Stadt begann. Sie sind nicht zurückgekehrt, und wir haben ihre Spuren bis zu den Grenzen der Grafschaft verfolgt. Dann haben wir sie verloren. Sie hatten die Absicht, nach Shrewsbury zu gehen, und da das Kloster die Verantwortung für sie übernommen hat, bin ich hier um festzustellen, ob sie hier angekommen sind. Der Abt hat mir gesagt, daß dies seines Wissens nicht der Fall ist. Es sei jedoch möglich, daß andere Flüchtlinge sie gesehen oder auf dem Marsch von ihnen gehört hätten und euch vielleicht davon erzählt haben. Ich wäre für jeden Hinweis dankbar, der zu ihrer Wiederauffindung führt. Dies sind ihre Namen: Das Mädchen heißt Ermina Hugonin und ist fast achtzehn Jahre alt. Sie befand sich in der Obhut unseres Nonnenklosters in Worcester.
    Ihr Bruder Yves Hugonin, der bei uns untergebracht war, ist erst dreizehn. Sie sind Vollwaisen, und ihr Onkel und Vormund war lange Zeit im Heiligen Land und hat erst kürzlich, nach seiner Rückkehr, von ihrem Verschwinden erfahren. Man wird verstehen«, sagte Bruder Herward und verzog schmerzlich das Gesicht, »daß wir äußerst bekümmert sind, unserem Auftrag nicht gerecht geworden zu sein, obwohl dies in Wahrheit nicht allein unser Fehler war. Es stand nicht in unserer Macht, das Geschehene abzuwenden.«
    »In solchen Wirrnissen und Gefahren«, pflichtete Radulfus ihm betrübt bei, »wäre es von jedermann zuviel verlangt, alles ordnungsgemäß abzuwickeln. Aber Kinder in einem
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