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Die Juden von Zirndorf

Die Juden von Zirndorf

Titel: Die Juden von Zirndorf
Autoren: Jakob Wassermann
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Ritus wurde mehr beachtet, weder das Abend- noch das Morgenminjan, weder der Socher, noch der Bund der Beschneidung. Über den Lilienplatz lief ein junger Mensch mit nacktem Oberkörper; er hatte sich auf die Brust die Worte gemalt: wir empfahen was unsere Taten wert sind, wir leiden Pein in heißen Flammen. Der Schmuel, der Richter der Gemeinde, ein Mann von siebzig Jahren, der sonst Tag und Nacht den Talmud studiert, hatte sich im Schulhof bis an den Hals in Erde eingegraben, und sein Leib war beinahe erstarrt. In hebräischen Worten schrie er leidenschaftlich das Lob des Messias und viele Menschen standen bleich und andächtig um ihn her. Rahel eilte hinaus zum Schießanger, wo noch von der Kirchweih die Wagen der Zigeuner standen, und dann lief sie hinüber zum Schwedenstein, wo sie kraftlos ins Gras sank. Sie hörte die Zigeuner schreien in ihrem Rotwälsch und sah sie gestikulieren, trotz des Nebels, der über der Landschaft lag. Der Schulklopfer und der Totengräber liefen an der Kapelle vorbei, aber sie nahm es nicht wahr. Ihr war zu Mut, als läge sie schon tagelang hier, ohne Sinn für die Flucht der Zeit, und als müsse sie noch tagelang und wochenlang hier kauern, unfähig zu begreifen, was in ihr vorging. Der Himmel bedeckte sich mit Wolken und ein feiner Perlenregen fiel. Eine dieser Wolken, die heraufzogen vom Vestner-Wald, hatte die Gestalt und die Züge des jungen Studenten, den sie liebte. Sie sah es genau: die Wolke trug einen schwarzen Bart, der zierlich um Kinn und Wangen stand und kokett zugespitzt war. Sie sah auch den kleinen Mund und die kleine Nase und die unsteten Augen. Und dann stand er plötzlich bei ihr, Thomas Peter Hummel, und ihr war, als könne sie seine Hand fassen. Er sprach ihr zu, fein und schnell und geschickt und wenn er überzeugte, war es nicht in dem, was er sagte, sondern in seiner Stimme, in seiner gewandten, schlangenhaften Art, in seiner heiteren Geschwätzigkeit. Er wählte seine Worte wie ein scharfer Politiker und spielte taschenspielerhaft mit den Gefühlen. Aber wie es in der Welt geht, sie liebte ihn.
    Ein Mann und ein Weib kamen vom Anger her. Ihr gemächlicher Schritt zeigte, daß sie den Regen nicht achteten. Rahel erkannte Zacharias Naar und jenes schlanke Mädchen, das sie bei den Schaustellungen am Schießanger gesehen hatte. Sie war schön. Man muß die Augen zumachen, wenn man sie sieht, dachte Rahel. Sie war blaß und krank, wie verzehrt von einer geheimen Sehnsucht. Jede Linie an ihrem Körper hatte etwas Leidendes und die Form ihres Mundes verriet Geduld und Lieblichkeit. Dennoch war etwas an ihr, das all dies Lügen strafte, vielleicht in der Heftigkeit und dem Trotz ihrer Augen. Bald verschwanden sie an der Biegung des Wiesenwegs. Rahel blickte starr in die leise dämmernde Landschaft hinein und war froh, daß sie nicht gesehen worden war. Sie fühlte nicht Kraft genug, wieder nach Hause zu gehen und fürchtete, die einbrechende Nacht könne sie noch immer hier finden. Sie erschien sich ausgestoßen und verfolgt; verurteilt, für sich allein Schmach, Bedrückung, Ruhelosigkeit und Heimatlosigkeit zu ertragen; sie wollte nicht mehr heimkehren. Sie haßte Vater und Mutter, haßte die bleichen, gebetseifrigen, jüdischen Männer, ihre gefräßigen, schwatzhaften Weiber, die altklugen Knaben, die frühreifen Mädchen, die kindischen, fanatischen Greise: alle schienen ihr verächtlich und unrein. Doch wohin sollte sie gehen, wenn nicht nach Hause; sie dachte: endlos ist die Welt und für ein Judenmädchen gibt es kein Erbarmen, keine Unterkunft, selbst ein Räuber darf sie stoßen mit seinen Füßen. Schließlich stechen sie einem die Augen aus, wenn sie es für gut finden, und dann mußt du verhungern. Sie glaubte nicht an diesen Messias, sie glaubte nicht an seine Prophezeiungen, vielleicht nur deshalb, weil es ihr gelungen war, durch einen plumpen Betrug alle, die um sie herum waren, im Namen desselben Messias zu täuschen.
    Während sie so sann und dabei in den westlichen Himmel sah, teilten sich dort die Wolken, und auf einmal warf die untergehende Sonne eine Flut schwefelgelben Lichtes über das Firmament. Bäume, Steine, Wiesen, das Wasser, der Wald, die Häuser in der Ferne, die Kirchtürme, ja die Luft selbst schien lebendiger Körper zu werden. Da lächelte Rahel und die Spannung ihrer Seele löste sich. Tiefer Frieden erfüllte sie, und sie schloß träumend die Augen.
    Ein Bauer kam von Ronhof her über das Feld geschritten, der seinen Kopf mit
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