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Die Jäger des Lichts (German Edition)

Die Jäger des Lichts (German Edition)

Titel: Die Jäger des Lichts (German Edition)
Autoren: Andrew Fukuda
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guter Junge.
    Doch ein paar Stunden später musste er mich allein lassen. Nachdem der Mond unter- und die Sonne aufgegangen war, öffnete er die Haustür und lief über die leeren sonnigen Straßen zu meiner Schule. Es ging um meinen Zahn. Er musste ihn finden. Wenn er in einer Ecke der Cafeteria oder neben einem Tischbein gefunden wurde, würde ein Verdacht, der bisher nur keimte und deshalb wahrscheinlich wie alle verrückten Hepra-Gerüchte eher früher als später wieder verstummen würde, bestätigt werden. Und wenn das geschah, würden sie zwei und zwei zusammenzählen und binnen Minuten, binnen Sekunden hinter mir her sein, mich zur Strecke bringen und fressen.
    Aber als mein Vater Stunden später kurz vor Anbruch der Dämmerung heimkehrte, kam er mit leeren Händen. Er hatte meinen Zahn nicht gefunden. Er war erschöpft, sein Gesicht von Angst gezeichnet, auch wenn er mir erklärte, ich solle mir keine Sorgen machen. Vielleicht hätte ich den Zahn einfach hinuntergeschluckt, meinte er, und er sei sicher in mir verwahrt.
    Ich fing an zu weinen; ich dachte, das wäre okay, ich war zu Hause, und er hatte mich vorher auch weinen lassen.Aber er tadelte mich. »Hör jetzt auf zu weinen. Keine Tränen mehr«, sagte er. »Du musst bald zur Schule aufbrechen. Dein Fehlen könnte Aufmerksamkeit erregen.« Ich schaffte es, mit dem Weinen aufzuhören, doch das Zittern, das meinen Körper erfasste, konnte ich nicht unterdrücken. Ich dachte, er würde wieder mit mir schimpfen, doch er nahm mich fest in die Arme, als wollte er das Beben in seinen Körper aufnehmen. In seinen Armen fühlte ich mich sicher.
    »Ich wünschte, wir würden uns einfach verwandeln«, sagte ich an seiner Brust.
    Er erstarrte sofort.
    Ich redete weiter. »Warum tun wir das nicht, Daddy? Ich hab es satt, unecht zu sein und mich die ganze Zeit zu verstecken. Warum verwandeln wir uns nicht einfach? Es wäre leicht, ich könnte irgendwie etwas von ihrer Spucke mit nach Hause bringen.« Ich war so in meine Worte versunken, dass ich seine wütende Miene nicht bemerkte. »Dann müssten wir den Speichel nur noch auf einen kleinen Kratzer in unserer Haut streichen, und alles wäre vorbei, das ewige Verstecken und Vortäuschen. Wir können einfach normal werden wie alle anderen. Wir könnten es zusammen machen, Daddy.«
    »Nein!«, sagte er, ein Wort wie ein Schrei, der in meinen Kopf gerammt wurde und dessen Echo nie verhallen würde. »Nein.« Er fasste mein Gesicht mit seinen beiden großen Händen und bückte sich, bis er mir direkt in die Augen sah. »Sag so was nicht. Denk so was nicht. Nie wieder.«
    Ich nickte, eher aus Furcht als aus Verständnis.
    »Vergiss nie, wer du bist, Gene.« Er drückte seine Hände fester auf meine Wangen. Ich glaube, ihm war gar nicht bewusst, wie kräftig er mich gepackt hielt. »Du bist perfekt, so wie du bist. Du bist kostbarer als alle Leute da draußen zusammen.« Er sprach immer weiter, machte Versprechungen und schwor, mich nie zu verlassen. Irgendwann wurde seine Stimme sanfter, sein sonorer beruhigender Ton strömte in Wellen durch meinen Körper, bis es sich anfühlte, als würde seine Stimme mit der DNA meiner Moleküle verschmelzen. Er hielt mich fest in den Armen, bis ich ganz still war.
    Mein ausgefallener Zahn wurde nie gefunden. Wahrscheinlich hatte ich ihn wirklich hinuntergeschluckt. Aber noch Wochen, Monate und sogar Jahre danach lebte ich in ständiger Angst, irgendwo da draußen in einem vergessenen Loch, einer Spalte oder Ritze würde mein matter und vergilbter Zahn liegen und könnte jeden Augenblick entdeckt werden. Genau wie meine eigene quälende Existenz: abgelegt und verborgen, um irgendwann einmal entdeckt zu werden.
    Und dennoch. Obwohl ich in einer winzigen Spalte zwischen zwei Welten lebte, lag in den Armen meines Vaters ein Universum aus Trost, das so hoch und weit war wie die Liebe selbst. Und an jenem Tag legte ich in seinen Armen ein stilles Gelübde ab, das so nahtlos mit dem Kern meines Wesens verschmolz, dass ich vergaß, es je geleistet zu haben –bis ich mich, als ich zehn Jahre später auf einem Boot den Fluss hinuntertrieb und meinen Namen auf einer Steintafel eingraviert las, plötzlich daran erinnerte und dieses Gelübde erneuerte: Mein Vater war mein Leben; sollte er je verschwinden, würde ich bis ans Ende dieser zerbrochenen Welt gehen und nach ihm suchen.

4
    Der Abend senkt sich, und mit ihm sinkt die ausgelassene Stimmung des Tages. Das Land taucht in das Dunkel der
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