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Die Jaeger der Nacht

Die Jaeger der Nacht

Titel: Die Jaeger der Nacht
Autoren: Andrew Fukuda
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Früher waren wir mehr. Davon bin ich überzeugt. Nicht genug, um ein Stadion oder auch nur ein Kino zu füllen, aber bestimmt mehr als heute. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass überhaupt noch jemand übrig ist. Außer mir. So geht es einem, wenn man eine Delikatesse ist, eine heiß begehrte Köstlichkeit: Man stirbt aus.
    Vor elf Jahren wurde eine von uns in meiner Schule entdeckt, eine Vorschülerin an ihrem ersten Tag. Sie wurde beinahe sofort verschlungen. Was hatte sie sich nur gedacht? Vielleicht war sie, getrieben von der plötzlichen Einsamkeit zu Hause (und die kommt immer plötzlich), mit der unausgegorenen Idee aufgebrochen, in der Schule Freunde zu finden. Die Lehrerin kündigte einen Mittagsschlaf an, und die Kleine blieb allein auf dem Boden stehen und klammerte sich an ihren Teddy, während ihre Klassenkameraden mit den Füßen voran an die Decke hüpften. In dem Moment war es vorbei mit ihr. Aus und vorbei. Sie hätte genauso gut ihre falschen Reißzähne herausnehmen und sich für das unvermeidliche Festmahl hinlegen können. Ihre Klassenkameraden starrten mit großen Augen von oben auf sie herab: Hallo, was haben wir denn da? Sie hat angefangen zu weinen, habe ich gehört, sie heulte sich förmlich die Augen aus. Die Lehrerin war die Erste, die sich auf sie stürzte.
    Nach dem Kindergarten, wenn man aus dem Alter für einen Mittagsschlaf raus ist, dann erst geht man zur Vorschule. Obwohl man vor Überraschungen trotzdem nie sicher ist. Einmal war mein Schwimmtrainer so wütend über den lahmen Auftritt des Teams bei einem Wettkampf, dass er uns alle zu einem Schläfchen in der Umkleidekabine verdonnerte. Er wollte natürlich nur ein Exempel statuieren, aber ich wäre um ein Haar geliefert gewesen. Schwimmen ist übrigens okay, aber andere Sportarten solltet ihr nach Möglichkeit meiden. Schwitzen ist nämlich extrem verräterisch. Schwitzen ist das, was passiert, wenn uns heiß wird: Wir sondern Wassertropfen ab wie ein sabbernder Säugling. Eklig, ich weiß. Alle anderen bleiben kühl, sauber und trocken. Und ich? Bin ein leckender Wasserhahn. Also vergesst Cross-Country-Läufe, vergesst Tennis, vergesst selbst Schach unter Wettkampfbedingungen. Aber Schwimmen ist okay, weil Schwimmen den Schweiß verbirgt.
    Das ist nur eine der Regeln. Es gibt noch viele andere, die mein Vater mir alle von Geburt an eingetrichtert hat. Nie lächeln, lachen oder kichern, nie weinen oder auch nur einen glasigen Blick bekommen. Jederzeit eine nichtssagende, unbewegte Miene zur Schau tragen; die einzigen Gefühle, die jemals die Gesichtsfassade der Leute durchbrechen, sind Hepra-Heißhunger und romantische Gier, und mit beidem habe ich logischerweise nichts zu tun. Nie vergessen, den ganzen Körper großzügig mit Butter einzuschmieren, wenn man sich bei Tageslicht hinauswagt. Denn in einer Welt wie dieser ist es verdammt schwer, einen Sonnenbrand oder auch nur eine leichte Bräune zu erklären. Es gibt so viele andere Regeln, dass man ein ganzes Notizbuch damit füllen könnte, auch wenn ich nie geneigt war, sie aufzuschreiben. Mit einem »Regelbuch« erwischt zu werden, wäre genauso verhängnisvoll wie ein Sonnenbrand.
    Außerdem hat mein Vater mich täglich an die Regeln erinnert. Wenn die Sonne unterging, ist er beim Frühstück mit mir immer ein paar davon durchgegangen. Etwa: Freunde dich mit niemandem an; schlaf nicht versehentlich in der Schule ein (öde Unterrichtsstunden und lange Busfahrten waren besonders gefährlich); räuspere dich nicht; trumpfe bei Prüfungen nicht auf, selbst wenn sie deine Intelligenz beleidigen; lass dich nicht von deinem eigenen guten Aussehen blenden; egal wie viele Mädchen dir ihr Herz und ihren Körper anbieten, gib der Versuchung nicht nach. Denn du darfst nie vergessen, dass dein Aussehen ein Fluch und kein Segen ist. Vergiss das niemals. All das sagte er, während er überprüfte, ob meine Nägel nicht abgestoßen oder zerkratzt waren. Mittlerweile sind mir die Regeln so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie für mich unverrückbar sind wie Naturgesetze. Nie war ich versucht, dagegen zu verstoßen.
    Bis auf eine. Als ich anfing, den von Pferden gezogenen Schulbus zu nehmen, verbot mein Vater mir, mich umzusehen und ihm zum Abschied zuzuwinken. So etwas machen die Leute nicht. Das war anfangs eine harte Regel für mich. Als ich an den ersten Abenden in den Bus stieg, musste ich all meine Kraft aufbringen, um starr nach vorn zu blicken, statt mich umzudrehen
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