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Die Jaeger der Nacht

Die Jaeger der Nacht

Titel: Die Jaeger der Nacht
Autoren: Andrew Fukuda
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und zu winken. Es war wie ein Reflex, ein nicht zu unterdrückender Hustenreiz. Außerdem war ich damals noch klein, deshalb fiel es mir doppelt schwer.
    Nur einmal habe ich gegen diese Regel verstoßen, vor sieben Jahren. Es war der Abend, an dem mein Vater ins Haus taumelte, seine Kleidung ramponiert, als wäre er in ein Gerangel geraten – und mit zwei Löchern im Hals. Er war unvorsichtig geworden, nur einen kurzen Moment lang, und hatte nun zwei deutliche Bissspuren. Schweiß strömte über sein Gesicht und tropfte auf sein Hemd. Er wusste es bereits. Ein hektischer Blick und Panik, die seine Arme zittern ließ, als er mich packte. »Jetzt bist du allein, mein Sohn«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen, während seine Brust von Krämpfen geschüttelt wurde. Als er einige Minuten später, das Gesicht schon erschreckend kalt, anfing zu zittern, stand er auf und rannte hinaus in das Licht der Dämmerung. Ich folgte seinen Anweisungen und schloss die Tür hinter ihm ab. Dann lief ich in mein Zimmer, vergrub mein Gesicht im Kopfkissen und schrie und schrie. Ich wusste, was er in diesem Moment machte: Er lief so weit weg von unserem Haus, wie er konnte, bevor er sich verwandelte und die Sonnenstrahlen zu einem Wasserfall aus Säure für seinen Körper wurden.
    Als der Schulbus am nächsten Abend vor unserem Haus hielt und der Atem aus den breiten, feuchten Nüstern der Pferde dampfte, brach ich die Regel, ich konnte nicht anders: Als ich in den Bus stieg, drehte ich mich um. Aber da spielte es schon keine Rolle mehr. Die Auffahrt lag leer im dunklen Abendgrauen vor mir. Mein Vater war nicht da. Damals nicht und nie wieder.
    Er hatte Recht gehabt. An dem Tag wurde ich einsam. Wir waren einmal eine vierköpfige Familie gewesen, aber das ist lange her. Dann waren es nur noch mein Vater und ich, und das war genug. Ich vermisste meine Mutter und meine Schwester, aber ich war noch zu jung gewesen, um eine echte Bindung zu ihnen zu entwickeln. Sie sind nur vage Schatten in meiner Erinnerung. Aber bis heute höre ich manchmal die Stimme einer Frau, die singt, und es erwischt mich jedes Mal unvorbereitet. Ich höre es und denke: Mutter hatte eine wirklich schöne Stimme. Aber mein Vater hat sie schrecklich vermisst. Ich habe ihn nie weinen sehen, nicht einmal, als wir alle Fotos und Notizbücher verbrennen mussten. Aber wenn ich manchmal mitten am Tag aufwachte, stand er bei offenen Läden am Fenster und starrte hinaus, einen Sonnenstrahl auf seinem schwermütigen Gesicht, und seine breiten Schultern bebten.
    Mein Vater hatte mich darauf vorbereitet, allein zu sein. Er wusste, dass der Tag irgendwann kommen würde, obwohl ich glaube, dass er tief im Innern fest davon überzeugt war, dass er und nicht ich als Letzter übrig bleiben würde. Er hatte mir die Regeln jahrelang eingetrichtert, sodass ich sie besser kannte als mein eigenes Ich. Wenn ich mich fertig mache, um in der Abenddämmerung zur Schule aufzubrechen – die ganze mühsame Prozedur von Waschen, Nägel feilen, Arme und Beine rasieren (und in letzter Zeit sogar ein paar Brusthaare), mich mit Salbe einreiben (um den Geruch zu überdecken), und meine falschen Reißzähne polieren – höre ich im Kopf noch immer seine Stimme, die die Regeln herunterbetet.
    So wie heute, als ich meine Socken überstreife. Die üblichen Ermahnungen: Nicht auf Partys mit Übernachtung gehen; niemals summen oder pfeifen. Aber dann höre ich eine Regel, die er höchstens ein- oder zweimal im Jahr erwähnte, so selten, dass es vielleicht gar keine Regel, sondern etwas anderes war, eine Lebensmaxime oder so. Vergiss nie, wer du bist. Ich wusste nie, warum mein Vater das sagte. Denn es ist so, als würde man sagen, vergiss nicht, dass Wasser nass ist, die Sonne hell, Schnee kalt. Überflüssig. Nie im Leben könnte ich vergessen, wer ich bin. Jeden Augenblick des Tages ist es präsent. Jedes Mal wenn ich mir die Beine rasiere, ein Niesen oder Lachen unterdrücke oder so tue, als würde ich vor einem verirrten Lichtstrahl zusammenzucken, werde ich daran erinnert, wer ich bin.
    Eine Scheinperson.

DIE HEPRA-LOTTERIE
    Dieses Jahr bin ich siebzehn geworden, seitdem muss ich nicht mehr den Bus zur Schule nehmen. Jetzt gehe ich gerne zu Fuß. Die Pferde – dunkle, gewaltige Viecher, die vor langer Zeit in Mode gekommen waren, weil sie die Fähigkeit hatten, Jagdwild aufzuspüren, heute jedoch nur noch zum Ziehen von Kutschen und Bussen eingesetzt werden – können meinen einzigartigen
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