Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Jaeger der Nacht

Die Jaeger der Nacht

Titel: Die Jaeger der Nacht
Autoren: Andrew Fukuda
Vom Netzwerk:
richten sich auf mich.
    Vor Nervosität setze ich an, mich zu räuspern, kann mich jedoch gerade noch rechtzeitig zurückhalten. Die Leute räuspern sich nie. Ich atme ein und zwinge mich, Zeit zu gewinnen. Ich widerstehe dem Drang, mir über die Oberlippe zu wischen, wo sich vermutlich erste Schweißtröpfchen bilden.
    »Muss ich dich noch einmal auffordern?«
    Vor mir sieht Ashley June mich noch eindringlicher an als zuvor. Einen Moment lang frage ich mich, ob sie auf meine Oberlippe starrt. Sieht sie dort den feinen Glanz von Schweiß? Habe ich beim Rasieren ein Haar übersehen? Dann hebt sie den Arm, einen langen, schlanken, blassen Arm, wie ein Schwanenhals, der sich aus dem Wasser reckt.
    »Ich glaube, ich weiß es«, sagt sie und steht auf. Sie nimmt dem Lehrer die Kreide aus der Hand. Er reagiert gar nicht, so perplex ist er. Normalerweise treten Schüler nicht unaufgefordert an die Tafel. Andererseits ist dies Ashley June, die mit so ziemlich allem durchkommt, was sie will. Sie betrachtet die Gleichung und schreibt dann mit elegantem Schwung große Buchstaben und Ziffern an die Tafel. Als sie fertig ist, fügt sie ihre eigene Signatur und ein »Sehr gut« hinzu, staubt sich die Hände ab und setzt sich wieder auf ihren Platz. Einige Schüler beginnen, sich an den Handgelenken zu kratzen, genau wie der Lehrer. »Das war ziemlich witzig«, sagt er. »Das gefällt mir.« Er kratzt sich das Handgelenk demonstrativ schneller und weitere Schüler tun es ihm nach. Ich höre das Scharren der Nägel und schließe mich an, kratze mit meinen langen Nägeln über meine Haut und hasse es. Meine Handgelenke sind nämlich fehlerhaft. Sie jucken nicht, wenn ich etwas witzig finde. Mein natürlicher Instinkt wäre es zu lächeln, also die Mundwinkel zu verziehen und die Zähne zu entblößen. Jedenfalls nicht, mir die Handgelenke zu kratzen. Ich hab dort empfindliche Nervenenden.
    In diesem Moment ertönt eine Nachricht über das Lautsprechersystem. Sofort hören alle auf zu kratzen und setzen sich gerader hin. Die Stimme klingt roboterhaft, weder männlich noch weiblich, gebieterisch.
    »Achtung! Eine wichtige Durchsage«, dröhnt sie. »Heute Nacht um zwei Uhr, also in drei Stunden, wird der Herrscher eine landesweit übertragene Deklaration abgeben. Alle Bürger sind zur Anwesenheit verpflichtet. Dementsprechend fallen sämtliche zu dieser Zeit angesetzten Kurse und Unterrichtsstunden aus. Lehrer, Schüler und das gesamte Verwaltungspersonal versammeln sich in der Aula, um gemeinsam die Liveübertragung unseres geliebten Herrschers anzuschauen.«
    Das ist alles. Nach dem Gong zum Abschluss der Durchsage sagt niemand ein Wort. Alle sind überwältigt von der Nachricht. Der Herrscher – der in der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen wurde – tritt praktisch nie im Fernsehen auf. Normalerweise überlässt er Ankündigungen des Palastes und andere Regierungserklärungen einem seiner vier Minister (Wissenschaft, Bildung, Ernährung und Justiz) oder einem der fünfzehn ihnen unterstellten Direktoren (Pferdetechnik, städtische Infrastruktur, Hepra-Studien und so weiter).
    Niemandem ist es entgangen, dass diesmal eine Deklaration angekündigt wurde. Alle spekulieren. Eine landesweit übertragene Deklaration ist nur zu äußerst seltenen Anlässen vorgesehen. In den vergangenen fünfzehn Jahren gab es nur zwei. Die eine, um die Hochzeit des Herrschers bekanntzugeben. Und die andere bekanntermaßen zur Ankündigung der Hepra-Jagd.
    Obwohl die letzte Hepra-Jagd jetzt zehn Jahre zurückliegt, sprechen die Leute noch immer darüber. Der Palast überraschte die Öffentlichkeit mit der Erklärung, dass man heimlich acht Hepra gehegt hatte. Acht lebendige Hepra voller Blut. Um in Zeiten einer wirtschaftlichen Krise die allgemeine Moral zu stärken, entschied der Herrscher, sie in der Wildnis auszusetzen. Die jahrelang in Gefangenschaft gehaltenen Hepra waren verfettet und langsam, verwirrt und verängstigt. In der Wildnis ausgesetzt wie Lämmer auf der Schlachtbank hatten sie keine Chance. Man gab ihnen zwölf Stunden Vorsprung. Dann durfte eine Gruppe glücklicher Lotteriegewinner ihnen nachjagen. Nach zwei Stunden war die Jagd beendet. Das Ereignis ließ die Beliebtheitswerte des Herrschers in die Höhe schießen.
    Auf dem Weg zum Essen in der Cafeteria höre ich das aufgeregte Stimmengewirr. Viele hoffen auf die Ankündigung einer weiteren Hepra-Jagd. Es gibt Gerüchte über eine erneute Lotterie für alle
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher