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Die Jäger des Lichts (German Edition)

Die Jäger des Lichts (German Edition)

Titel: Die Jäger des Lichts (German Edition)
Autoren: Andrew Fukuda
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starre auf die beiden nebeneinanderstehenden Dosen. Mein Name neben Sissys in handgeschriebenen Blockbuchstaben. Wie Namen auf unserem Grabstein.
    Die Nacht bricht an. Ich wache zuckend auf, spüre die Kälte bis in die Knochen. Selbst das Mondlicht ist zu einem Angriff auf meine Augen geworden. Meine Verwandlung nähert sich ihrer Vollendung. Eine kühle Brise weht flüsternd durch den Waggon und trägt einen Hauch von Qualm mit sich. Ich richte mich auf und sehe mich um. Aus dem Schornstein der Lokomotive steigt eine fette Rauchsäule. Die Maschine muss automatisch angesprungen sein, nachdem wir den Schwung der abschüssigen Fahrt verloren haben. Wahrscheinlich wird der Zug in diesem Tempo bis zum Palast weiterfahren, ohne zu bremsen. Alles automatisch.
    Wie meine Verwandlung.
    Ich zittere, mein ganzer Körper wird von Krämpfen geschüttelt, mein Herz rast, und mein Hemd klebt von kaltem Schweiß. Die Langsamkeit der Verwandlung ist eine Qual für sich. Im Mondlicht biegen und wellen sich die Schatten der Gitterstäbe über der Landschaft unserer Körper. Hin und wieder schreit ein Mädchen auf, verloren in einem Albtraum. Ich richte mich auf und spüre das Bröckeln von getrockneten, krustigen Knochen. Neben mir wälzt David sich unruhig im Schlaf und murmelt gequält vor sich hin. Ich breite die Decke über ihn. Sein Arm ist über den freien Platz neben ihm gestreckt. Wo Jacob schlafen würde.
    Das Land donnert vorbei, Meilen über Meilen von Nichts. Sissy liegt an meinen Füßen, den Kopf in Epaps Schoß gebettet. Die Messer in ihrem Gürtel blitzen lockend im Licht des Mondes. Meine Finger berühren das raue Leder des Gürtels. Ich löse den Riemen und ziehe den Dolch heraus. Es ist Zeit.
    Epap wird es nicht tun. Aber ich kann es. Ich muss es. Erst sie, dann mich.
    Ich lege die Spitze an ihren Hals. Die Klinge sinkt in das weiche Fleisch; eine Ader pulsiert neben der Schneide.
    Ihr Puls pocht nicht mehr wild, sondern geht ganz ruhig. Stirnrunzelnd berühre ich ihre Haut.
    Sie ist trocken. Sie ist warm.
    Ich lege eine Hand auf ihre Brust. Der Herzschlag ist ruhig und regelmäßig.
    Sie verwandelt sich nicht mehr. Sie verwandelt sich zurück .
    Ich starre in ihr erholtes, gelassenes Gesicht und verstehe es nicht. Eine Böe weht durch die Gitterstäbe, und ich zittere im Delirium meiner Verwandlung.
    »Sissy?«
    Ihre Augenlider flattern. Sie kommt zu sich. Sie zieht ihre Hand unter der Decke hervor und stößt gegen die beiden Dosen. Meine und ihre, nebeneinander.
    Mir ist, als hätte ich etwas gesehen, und mein Herz beginnt aus einem nicht gleich erkennbaren Grund noch schneller zu pochen.
    Dann höre ich die Stimme meines Vaters, erstaunlich klar nach all den Jahren: Du guckst, ohne zu sehen. Die Antwort ist direkt vor deiner Nase .
    Sissy wacht auf. Sie streckt ihre trockene weißliche Zunge heraus und befeuchtet ihre rissigen Lippen. Sie öffnet die Augen, aber nicht wie zuvor mit einem unsicheren Flattern der Lider, sondern mit einer neuen Sicherheit.
    In wenigen Momenten wird sie zu sich kommen, sich aufrichten und mich ansehen.
    Aber noch nicht. Mein Blick fällt wieder auf die nebeneinanderstehenden Dosen und die Buchstaben, die Epap daraufgeschrieben hat.
    Gene. Sissy.
    Aber nicht ganz. Denn ihr Name ist nur zur Hälfte zu lesen. Nur die ersten drei Buchstaben sind sichtbar, die beiden anderen verschwinden hinter der Rundung der Dose.
    Sis.
    Der Name, den ihr der Forscher gegeben hat.
    Ich muss unvermittelt an den Hängegleiter denken. Es war von Anfang an geplant, dass ihr beide fliegt. An Krugman und sein hartnäckiges Beharren, der Ursprung müsse etwas Typografisches sein. An Epap, der erzählt hat, dass mein Vater jeden ihrer Namen mit Bedacht gewählt hat. An mein Blut in ihrem Körper, das sich mit ihrem vermischt hat.
    Ich starre auf die Namen wie ein Blinder, der plötzlich wieder sehen kann.
    Gene. Sis.
    Gene. Sis.
    Genesis.
    Sie öffnet die Augen, Augen, die ich von nun an immer anders betrachten werde.
    Sie sieht mich an. Sie zuckt nicht zusammen und blinzelt nicht, obwohl ihr das Mondlicht direkt ins Gesicht scheint. Sie wird denken, meine Augen seien weit vor Freude und Überraschung, sie wiederbelebt zu sehen.
    Doch ich habe die Augen aufgerissen, weil ich die Wahrheit erkannt habe, die mir die ganze Zeit ins Gesicht gestarrt hat. Direkt vor meiner Nase.
    Genesis. Der Anfang.
    Der Ursprung .
    Nicht ich. Nicht sie. Sondern wir beide.
    Gemeinsam sind wir das
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