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Die Inszenierung (German Edition)

Die Inszenierung (German Edition)

Titel: Die Inszenierung (German Edition)
Autoren: Martin Walser
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Seite.
    Das Kapitel heißt Schweigen und Verschweigen. Und dann noch das Kapitel Verheimlichung und Geheimhaltung. Falls es dich interessiert.
    Gerda!
    Du weißt, warum ich eine erfolgreiche Ärztin bin.
    Weil du alle Krankheiten auf die Ursache zurückführst, die die Ursache aller Krankheiten ist.
    Spotte ruhig.
    Gerda, ich habe noch nie aufgehört, dich zu bewundern.
    Und was ist die Ursache aller Krankheiten?
    Abhängigkeit.
    Und warum bist du in dieser Klinik?
    Stopp! Endlich eine Krankheit, die nicht in dein Fach fällt. Durchblutungsstörung im Gehirn, Sehstörung bis zur Erblindung.
    Die erstaunlich schnell verging. Du simulierst. Wie lange noch?
    Bis … zum Wochenende. Ich könnte der Nachtschwester die Nina anbieten. Sie weiß noch nichts davon. Die Demski ist für die Nina so ungeeignet wie du für die Lady Macbeth. Aber, Moment, das wäre endlich die Gewalt als liebenswürdige Grausamkeit. Ach, Gerda, warum musst du andauernd Menschen heilen, statt mit mir zu spielen. Gerda, diese Nachtschwester ist, was nach dir keine mehr war.
    Das sagst du jedes Mal. Dass dir das nicht selber auffällt. Diese Wiederholungen bis ins Wörtliche.
    Sie sieht auf dem Boden ein Taschentuch. Hebt es auf.
    Ein Taschentuch!
    Natürlich ein Taschentuch. Ich wollte ja immer schon Othello machen. Aus einem Taschentuch von Desdemona produziert Jago die tödliche Intrige.
    Für dieses Taschentuch brauchen wir keinen Jago.
    Das wär’s überhaupt. Der Othello, von einer Frau gespielt. Die Eifersucht ist eine weibliche Domäne!
    Und von wem ist dieses Taschentuch? Es duftet ein bisschen nach … nach, ich weiß nicht, was.
    Hauptsache, es duftet.
    Es duftet nach Nachtschwester.
    Leg’s da hin. Ich werde sie fragen.
    Gestern hast du gesagt, sie sei eine reichhaltige Person.
    Das ist sie.
    Vorgestern hast du gesagt, sie sei wie eine Landschaft, in der man wandern möchte.
    Was du dir alles merkst.
    Und vor drei Tagen war sie: das Gegenteil von berechenbar.
    Gerda, der Klinikalltag droht eintönig zu werden. Man ist dankbar, wenn eine Person auftaucht, die ein bisschen Farbe ins Alltagsgrau bringt.
    Wie heißt sie?
    Nachtschwester! Ist das nicht ein hinreißendes Wort? Nachtschwester.
    Nach zehntägiger Beobachtung heißt die Diagnose: weitgehender, vielleicht vollständiger Verlust der Selbstbestimmungsfähigkeit. Eine Abhängigkeit, die in meiner Gradation die zweithöchste Stufe hat. Nummer neun. Nummer zehn wäre erreicht, wenn du den Verlust der Selbstbestimmungsfähigkeit gar nicht mehr wahrnähmst. Aber du nimmst ihn noch wahr und suchst, ihn zu verbergen. Darin drückt sich noch aus eine Achtung der Rechtmäßigkeit aller Umstände, die das persönliche Glücksverlangen verneinen. Zehn hieße, die Realität mag sein, wie sie will, der Betroffene will davon nichts mehr wissen, ja, er weiß sogar nichts mehr davon. Das Realitätsprinzip ist außer Kraft gesetzt. Die Illusion hat die Herrschaft übernommen und lässt sich durch nichts mehr bremsen. Du bist noch nicht so weit. Du weißt noch, dass du in Gefahr bist, die Illusion allmächtig werden zu lassen. Du weißt noch, dass deine Inszenierung auf dem Spiel steht. Dass du längst wieder auf der Bühne stehen, Regisseur sein solltest. Mit jeder Inszenierung, hast du einmal gesagt, setzt der Regisseur alles, was er je gemacht hat, wieder aufs Spiel. Und das tust du, wenn du dich, obwohl du dich erstaunlich schnell von deinem Schlaganfall erholt hast, mit Lydias Hilfe zum Fernmelderegisseur machst. Und weißt, dass das nicht geht. Der Regisseur ist nicht durch noch so treue Botschaften zu ersetzen. Er ist Teil der Inszenierung nicht durch kluge Botschaften, sondern durch leibhaftige Anwesenheit. Er verändert sich durch jede Sekunde seiner Anwesenheit, wie sich die ganze Inszenierung andauernd verändert. Einfach dadurch, dass alle teilnehmen. Und du drückst dich. Du desertierst. Du riskierst das Scheitern. Die Katastrophe. Die Inszenierung erstickt, weil du ihr deinen Atem versagst.
    Donnerwetter, Dr. Gerda, die Instanz. Bevor du zur Hinrichtung schreitest, empfehle ich, was Shakespeare mitteilt: Der Henker bittet den Hinzurichtenden, bevor er ihn hinrichtet, um Vergebung.
    Nur zu gern! Und dass ich es ungern tue, dazu! Und nur tue, weil du in Gefahr bist.
    Du richtest mich hin, um mich zu retten.
    Mach nur ein Theater daraus. Du weißt, dass du in Gefahr bist, du spürst es, aber du glaubst, du könnest durch Tricks und Täuschung davonkommen. Herr des Verfahrens bleiben. Wie
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