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Die Inszenierung (German Edition)

Die Inszenierung (German Edition)

Titel: Die Inszenierung (German Edition)
Autoren: Martin Walser
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von einer Moral beherrscht, die wir zwar nicht anerkennen, die aber darüber entscheidet, was wir von uns selber halten müssen. Was wir noch denken dürfen und was nicht. Es ist die feinste Fähigkeit der Seele, sich vor dem Unerträglichen zu schützen. Diese Fähigkeit lasse ich mir nicht verdächtig machen. Verheiratetsein: einerseits Nähe, andererseits Schweigen, Verschweigen, Verheimlichung, Geheimhaltung. Man ist mehr oder weniger verheiratet. Die Utopie, Gerda: Verheiratet bin ich mit dem, dem ich am meisten sagen kann.
    Augustus hört auf, wie einer aufhört, der weiß, dass er nicht alles gesagt hat, was er sagen wollte.
    Gerda wartet nicht. Irgendwann sagt sie:
    Wie viel jünger ist sie?
    Als du?
    Als du!
    Ich habe sie nicht gefragt.
    Wahrheit. Das wäre die Rückkehr ins Paradies. Aber mit der Erfahrung, wie es draußen ist. Immunschwächen der Seele! Jetzt! Aber solang es war, war es immer alles. Dein Ein und Alles!
    Schau, Britta, Carla, Lavinia …
    Um nur die drei Letzten zu nennen.
    … es sind die drei letzten Inszenierungen. Britta, Käthchen von Heilbronn, der göttliche Kleist. Carla, Antigone, der absolute Sophokles. Lavinia, Tartuffe, der ungeheure Molière.
    Immunschwächen der Seele!
    Ich nehm’s zurück. Ich entschuldige mich.
    Bei?
    Bei dir. Bei Britta! In der ersten Reihe saß sie bei diesem blöden Kongress in Köln. Sie sah überhaupt nicht aus, wie die in der ersten Reihe aussehen. Sie saß auf dem Platz, der für ihren Onkel reserviert war, einen Professor Sowieso. Mir fiel sie auf, weil sie die Reden aufnahm. Beim Empfang fragte ich sie. Eben für den Onkel hat sie’s getan. Und sie, ein Kind, wenn auch schon sechsundzwanzig. Sie schaute mich unter ihren Haaren so an, es war kein Blick, es war ein Hilfeschrei. Kommen Sie, sagte ich, nahm ihre Hand, führte sie hinaus. In irgend ein Lokal. Sie sah nur noch vor sich hin. Auf ihre Hände. Und die taten etwas mit einander, was ich nicht verstand. Es sah aus, als würden sie mit einander ringen. Und sie konnte nicht eingreifen. Ich, mitten in den Käthchen-Proben. Ich voll von diesen rauschhaft schwingenden Käthchen-Sätzen. Seh ihre Hände und sage ihr halblaut den Text: Wahrhaftig, wenn ich sie so daliegen sehe, mit roten Backen und verschränkten Händchen. Dann das erste Wort von ihr: Angst. Dann mühsam: Ihr Vater habe sich von einem Kreuzfahrtschiff im Mittelmeer von Bord gestürzt. Dann allmählich ein Inhalt: dass sie nicht mehr an allem schuldig sein wolle. Verantwortungslosigkeit. So ein Wort schob sie heraus. Verantwortungslosigkeit, endlich. Ihr sei es, als ich sie bei dem Empfang ansprach, schwindlig geworden. Sie habe sich an dem Stehtischchen festhalten müssen. Ich hatte gerade einer Schauspielerin helfen müssen, das Käthchen zu verstehen, das vierzehnjährige. Als sie zum ersten Mal den Grafen Wetter vom Strahl sieht, stürzt sie vor ihn hin. Die Schauspielerin, selber schon zweiundzwanzig, fragt mich, ob das Käthchen wisse, was sie tue, oder ob ihr das einfach passiere oder ob sie etwas imitiere. Als diese Britta das mit dem Schwindligwerden sagte, sagte ich ihr einiges über das Käthchen, das mehr als einmal im Stück vor dem Grafen in Ohnmacht fällt. Da war sie hin. Und ich auch. Sie sei seit dem Tod ihres Vaters noch nie so verstanden worden wie in dem Augenblick, als ich sie ansprach. Wann sei das gewesen, der Tod ihres Vaters. Viereinhalb Jahre sei das her jetzt. Und ich mitten im Käthchen! In der ersten Fassung gibt Kleist dem Grafen, wenn der das Käthchen erlebt hat, einen Monolog. Fünfmal ruft er da aus: Ich bin geliebt. Ich bin geliebt. Ich bin geliebt. Lydia hat diese Szene entdeckt. Sie wollte das ins Stück, dieses fünfmalige Ich bin geliebt. Ich lehnte ab. Ich wusste nicht, wie ein Schauspieler das bringen sollte. Fünfmal: Ich bin geliebt. Nachdem ich Britta erlebt hatte, habe ich den Grafen fünfmal Ich bin geliebt sagen lassen können. Auf einmal war das möglich. Überhaupt kein Problem mehr. Für mich. Fünfmal zu sagen: Ich bin geliebt. Man muss erleben, dass es möglich ist. Ja, es musste sogar sein. Der Graf muss nach diesem Monolog weinen. Nach fünfmal Ich bin geliebt weinen. Weinen – ist das Schwierigste. Auf der Bühne. Überhaupt Vorgänge im Körperlichen. Weinen, Lieben, Sterben. Es darf nichts imitiert werden. Ich musste selber weinen. Na ja. Es gelang. Irgendwie.
    Und heute ist Britta???
    Seit sieben Jahren für BMW in Brasilien.
    Verheiratet?
    Nein.
    Natürlich nicht.
    Sie
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