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Die Insel Des Vorigen Tages

Die Insel Des Vorigen Tages

Titel: Die Insel Des Vorigen Tages
Autoren: Umberto Eco
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alte Pozzo sich beim Degenputzen geschnitten, und sei’s, daß die Klinge rostig war, sei’s, daß er sich an einer besonders empfindlichen Stelle verletzt hatte, die Wunde schmerzte ihn sehr. Da hatte der Karmeliter den Degen genommen, hatte ihn mit einem Pulver bestreut, das er in einem Döschen bei sich führte, und sofort hatte der alte Pozzo geschworen, es gehe ihm besser. Tatsache ist, daß die Wunde bereits am folgenden Tag zu vernarben begann.
    Der Karmeliter hatte sich über das allseitige Erstaunen gefreut und gesagt, das Geheimnis jener Substanz habe ihm ein Araber enthüllt und es handle sich um ein noch viel wirksameres Mittel als das, welches die christlichen Spagiriker unguentum armarium , Waffensalbe, nannten. Auf die Frage, warum das Pulver nicht auf die Wunde gestreut werden müsse, sondern auf die Klinge, von der sie verursacht worden sei, hatte er gesagt, das eben sei die Wirkungsweise der Natur, zu deren stärksten Kräften die universale Sympathie gehöre, die das Handeln aus der Entfernung lenke. Und hatte hinzugefügt, wenn die Sache schwer zu glauben erscheine, brauche man nur an den Magneten zu denken, der bekanntlich ein Stein sei, der Metallspäne anziehe, oder an die großen Eisenberge, die den Norden unseres Planeten bedeckten und so die Kompaßnadel anzögen. In gleicher Weise ziehe die Waffensalbe, wenn sie auf die Klinge gestrichen werde, jene Eigenschaften des Eisens an, welche der Degen in der Wunde gelassen habe, wo sie die Heilung verhinderten.
    Jeder, der so etwas in der Kindheit erlebt hat, bleibt davon sein Leben lang gezeichnet, und wir werden bald sehen, wie Robertos Schicksal durch sein Interesse für die Anziehungskraft von Pulvern und Salben bestimmt worden ist.
    Im übrigen war es nicht dieser Vorfall, der Robertos Kindheit am stärksten geprägt hatte. Es gab da noch einen anderen, und genauer gesagt war es kein einzelner Vorfall, sondern eine fast wie ein Kehrreim wiederholte Episode, die der Knabe in argwöhnischer Erinnerung behalten hatte. Wie es scheint, pflegte nämlich der Vater, der seinem Sohn gewiß sehr zugetan war, auch wenn er ihn mit der wortkargen Grobheit behandelte, die den Menschen jenes Landstriches eigen ist, ihn bisweilen - und gerade in seinen ersten fünf Lebensjahren - plötzlich hoch in die Luft zu heben und ihm stolz zuzurufen:
    »Du bist mein Erstgeborener!« Eigentlich nichts weiter Seltsames, nur eine läßliche Sünde der Redundanz, da Roberto sein einziger Sohn war. Hätte sich dann Roberto, als er größer wurde, nur nicht zu erinnern begonnen (oder sich eingeredet, sich zu erinnern), daß seine Mutter angesichts dieser väterlichen Freudenbekundungen eine Mischung aus Unruhe und Beglücktheit an den Tag legte, als hätte der Vater zwar gut daran getan, jenen Ausruf zu tun, aber als wäre dadurch in ihr eine alte, gleichsam schon eingeschlafene Angst wieder aufgeweckt worden. Robertos Phantasie hatte sich lange mit dem Ton jenes Ausrufs beschäftigt, um schließlich zu dem Ergebnis zu kommen, daß der Vater den bewußten Satz nicht wie eine selbstverständliche Feststellung ausgesprochen hatte, sondern wie eine neuartige Investitur, indem er das »du« so betonte, als wollte er sagen: »Du und nicht irgendein anderer bist mein erstgeborener Sohn.«
    Nicht irgendein anderer oder nicht jener andere? In Robertos Briefen finden sich immer wieder Hinweise auf einen Anderen, dessen Existenz ihn wie eine Obsession verfolgte, und die Idee scheint ihm genau damals gekommen zu sein, als er sich eingeredet hatte - und worüber konnte ein kleiner Junge nachgrübeln, der sich allein zwischen Schloßtürmen voller Fledermäuse, zwischen Weinbergen, Eidechsen und Pferden herumtrieb, weil ihn der Umgang mit den gleichaltrigen Bauernjungen verlegen machte, und der, wenn er nicht den Märchen der Großmutter zuhörte, denen des Karmeliters lauschte? -
    , irgendwo habe er einen nicht anerkannten Bruder, der von übler Wesensart sein mußte, wenn ihn der Vater verstoßen hatte. Roberto war erst zu klein und dann zu schamhaft gewesen, um sich zu fragen, ob dieser Bruder ein Halbbruder väter- oder mütterlicherseits war (und in jedem Fall wäre auf einen der beiden Elternteile der Schatten einer alten, unverzeihlichen Verfehlung gefallen): Er war einfach ein Bruder; sicherlich war er selbst, Roberto, irgendwie schuld an seiner Verstoßung gewesen (vielleicht auf übernatürliche Weise), und darum hegte der Verstoßene sicherlich einen Haß auf ihn als den
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