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Die Insel Des Vorigen Tages

Die Insel Des Vorigen Tages

Titel: Die Insel Des Vorigen Tages
Autoren: Umberto Eco
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Vorgezogenen.
    Der Schatten dieses feindlichen Bruders (den er gleichwohl gerne kennengelernt hätte, um ihn zu lieben und sich von ihm lieben zu lassen) hatte seine Nächte als Kind beunruhigt; später, als Heranwachsender, hatte er in der Bibliothek alte Bücher durchgeblättert, um, in ihnen versteckt, was weiß ich, ein Porträt zu finden, eine Geburtsurkunde, ein enthüllendes Geständnis. Er war auf den Dachboden gestiegen, um alte Truhen zu öffnen, die voller Kleider der Urgroßeltern waren, Schachteln mit angelaufenen Medaillen oder mit einem maurischen Dolch, und hatte mit erstaunten Fingern Hemdchen aus feinem Leinen befühlt, die sicher einst einem kleinen Kind gehört hatten, aber wer weiß, ob vor Jahren oder vor Jahrhunderten.
    Mit der Zeit hatte er diesem verlorenen Bruder auch einen Namen gegeben, Ferrante, und hatte begonnen, ihm kleine Vergehen zuzuschreiben, die ihm zu Unrecht vorgeworfen worden waren, wie den Diebstahl einer Süßigkeit oder die unerlaubte Befreiung eines Hundes von seiner Kette. Ferrante, begünstigt durch seine Verstoßung, handelte in seinem Rücken, und er, Roberto, versteckte sich hinter Ferrante. Und langsam verwandelte sich die Gewohnheit, dem inexistenten Bruder all das anzutasten, was Roberto nicht getan haben konnte, in die Unart, ihm auch das anzutasten, was Roberto tatsächlich getan hatte und nun bereute.
    Nicht daß Roberto die anderen belog; aber auf diese Weise gelang es ihm, während er stumm und mit zusammengebissenen Zähnen die Strafe für seine Vergehen auf sich nahm, sich von seiner Unschuld zu überzeugen und sich als Opfer einer Ungerechtigkeit zu fühlen.
    Einmal zum Beispiel hatte Roberto, um eine neue Axt auszuprobieren, die soeben geliefert worden war (zum Teil aber wohl auch aus Trotz über irgendein erlittenes Unrecht), einen kleinen Obstbaum gefällt, den sein Vater erst kurz zuvor gepflanzt hatte, mit großen Hoffnungen auf künftige Früchte. Als ihm die Schwere seiner dummen Tat aufgegangen war, hatte er sich schreckliche Konsequenzen ausgedacht, mindestens einen Verkauf an die Türken, die ihn lebenslänglich auf ihren Galeeren rudern lassen würden, und hatte sich entschlossen, die Flucht zu versuchen, um sein Leben als Bandit in den Bergen zu beenden. Auf der Suche nach einer Rechtfertigung war er bald zu der Überzeugung gelangt, daß kein anderer als Ferrante das Bäumchen umgehackt haben konnte.
    Dann aber rief der Vater, als er das Delikt entdeckt hatte, alle jungen des Gutes zusammen und sagte, um zu verhindern, daß sein Zorn sich unterschiedslos über alle ergießen solle der Schuldige lieber gestehen. Da wurde Roberto von einer mitleidserfüllten Großmut erfaßt: Wenn er Ferrante beschuldigen würde, hätte der Ärmste eine neuerliche Verstoßung zu gewärtigen, im Grunde spielte er ja nur den Bösen, um sein Waisendasein zu kompensieren, verletzt vom Schauspiel seiner Eltern, die einen anderen mit ihren Liebesbezeugungen überhäuften ... Und so war Roberto vorgetreten und hatte zitternd vor Furcht und Stolz gesagt, er wolle nicht, daß irgendein anderer an seiner Stelle beschuldigt werde. Es wurde, obwohl es keines war, als Geständnis genommen. Der Vater sagte unter allerlei Räuspern, während er sich den Schnurrbart zwirbelte und die Mutter ansah, das Verbrechen sei zwar überaus schwer und die Bestrafung mithin unvermeidlich, aber er könne auch nicht umhin zuzugeben, daß der junge »Signor della Griva« den Traditionen der Familie Ehre mache und daß ein Ehrenmann sich so zu verhalten habe, auch wenn er erst acht Jahre alt sei. Dann hatte er sein Urteil gesprochen: Roberto werde Mitte August nicht an dem Besuch bei den Vettern in San Salvatore teilnehmen dürfen, was zwar eine schmerzliche Strafe war (in San Salvatore gab es den Weinbauern Quirino, der Roberto auf einen Feigenbaum von schwindelerregender Höhe zu heben verstand), aber gewiß nicht so schlimm wie die Galeeren des Sultans.
    Uns kommt die Geschichte einfach vor: Der Vater ist stolz, einen Sprößling zu haben, der nicht lügt, er sieht die Mutter mit schlechtverhohlener Befriedigung an und verhängt eine milde Strafe, um den Schein zu wahren. Aber Roberto hatte damals noch lange über der Sache gebreitet und war schließlich zu der Überzeugung gelangt, daß Vater und Mutter sicher geahnt hatten, daß Ferrante der Schuldige war, so daß sie den brüderlichen Heroismus des vorgezogenen Sohnes zu schätzen wußten und sich erleichtert fühlten, das
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