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Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages

Titel: Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages
Autoren: Umberto Eco
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Roberto jedoch nicht beruhigte, denn eine Mannschaft überlässt ihr Schiff niemals unbewacht der Gewalt des Meeres, auch wenn es mit eingerollten Segeln in einer ruhigen Bucht vor Anker liegt.
    An jenem Abend war er gleich zum Achterkastell hinaufgestiegen und hatte die Tür mit einem gewissen Zögern geöffnet, als müsse er jemanden um Erlaubnis bitten ... Neben der Ruderpinne befand sich der Kompass, auf dem er sah, dass die Meerenge zwischen den beiden Küsten genau in nordsüdlicher Richtung verlief. Dahinter kam, was wir heute die Messe nennen würden, ein Raum in Form eines L, und eine weitere Tür führte in die Kapitänskajüte mit ihrem breiten Fenster über dem Ruder und den seitlichen Türen zur Galerie. Auf der Amarilli war der Kommandoraum nicht identisch mit dem Schlafraum des Kapitäns gewesen, hier aber schien es, als habe man Platz sparen wollen, um Raum für etwas anderes zu gewinnen. Und tatsächlich fand sich, während links der Messe zwei kleine Offizierskajüten lagen, rechts neben ihr ein weiterer Raum, der fast noch größer als der des Kapitäns war, mit einer kleinen Kochstelle in der Ecke, aber sonst als Arbeitsraum eingerichtet.
    Der Tisch war überladen mit Karten, die Roberto zahlreicher vorkamen, als sie zur Navigation eines Schiffes gebraucht wurden. Es schien der Arbeitsplatz eines Wissenschaftlers zu sein: Außer den Karten gab es verschieden eingestellte Fernrohre, ein schönes Nocturlabium aus Kupfer, das rotgolden schimmerte, als wäre es eine Lichtquelle in sich, eine auf der Tischplatte befestigte Armillarsphäre, weitere Papiere voller Zahlenkolonnen und ein Pergament mit kreisförmigen Zeichnungen in Schwarz und Rot, das Roberto, weil er Kopien davon auf der Amarilli gesehen hatte (die aber schlechter gemacht waren), als eineReproduktion der Mondfinsternis-Tafeln des Regiomontanus erkannte.
    Dann war er in den Kommandoraum zurückgekehrt: Wenn man auf die Galerie hinaustrat, konnte man die Insel sehen, man konnte – schrieb Roberto – mit Luchsaugen ihre Stille fixieren. Mit anderen Worten, die Insel war nach wie vor da.
    Er musste fast nackt auf das Schiff gelangt sein; ich denke, er wird sich als erstes, verklebt vom Salzwasser, wie er war, in der Kombüse gewaschen haben, ohne sich zu fragen, ob das dort befindliche Wasser das einzige an Bord war, danach wird er in einer Truhe einen schönen Rock des Kapitäns gefunden haben, vielleicht den, der für den Tag der Rückkehr aufbewahrt worden war. Vielleicht hat er sich auch ein wenig aufgeplustert in seinem Kommandantenrock, und in Stiefel zu schlüpfen muss ihm das Gefühl gegeben haben, wieder ganz in seinem Element zu sein. Nur in diesem Zustand kann ein gutgekleideter Mann von Welt – und nicht ein ausgemergelter Schiffbrüchiger – offiziell von einem verlassenen Schiff Besitz ergreifen und das, was Roberto nun tat, nicht als einen Übergriff, sondern als ein Recht betrachten: Er suchte auf dem Tisch und fand, aufgeschlagen und wie unverrichteter Dinge liegengelassen, neben Gänsekiel und Tintenfass, das Logbuch. Auf der ersten Seite las er sofort den Namen des Schiffes, aber das Weitere war eine unverständliche Folge von Wörtern wie anker, passer, sterre-kyker, roer , und es half ihm wenig zu wissen, dass der Kapitän ein Flame war. Immerhin enthielt die letzte Zeile ein Datum, das nur wenige Wochen zurücklag, und nach ein paar unverständlichen Worten stand da unterstrichen in gutem Latein: quae dicitur pestis bubonica .
    Endlich eine Spur, ein Ansatz zu einer Erklärung: Auf dem Schiff war eine Epidemie ausgebrochen! Roberto war darüber nicht weiter beunruhigt: Er hatte seine Pest vor dreizehn Jahren gehabt, und wie jeder weiß, hat jemand, der die Krankheit einmal überstanden hat, eine Art Gnade erworben, als ob es diese Schlange nicht wagte, ein zweites Mal in die Lenden dessen zu fahren, der sie einmal gebändigt hat.
    Andererseits erklärte dieser Hinweis nicht viel und ließ Raum für andere Beunruhigungen. Es konnte zwar sein, dassalle an der Epidemie gestorben waren, aber dann hätte man doch, verstreut auf dem Deck, die Leichen der letzten finden müssen, wenn anzunehmen war, dass sie den vorher Gestorbenen ein frommes Seemannsbegräbnis hatten zuteil werden lassen.
    Allerdings fehlte ja auch die Schaluppe: Demnach könnten die letzten, oder auch alle, davongefahren sein. Was macht ein Schiff mit Pestkranken zu einem so bedrohlichen Ort, dass man ihn nur noch fliehen kann? Ratten vielleicht? Es
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