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Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages

Titel: Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages
Autoren: Umberto Eco
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schien Roberto, als könne er in der schwer lesbaren Schrift des Kapitäns ein Wort wie rottenest (Rattennest?) entziffern – und sofort war er herumgefahren und hatte die Lampe hochgehalten in der Erwartung, etwas an den Wänden huschen zu sehen und jenes Quieken zu hören, das ihm auf der Amarilli das Blut hatte gefrieren lassen. Mit Schaudern erinnerte er sich, wie er einmal nachts aus dem Schlaf gefahren war, weil ihm ein pelziges Wesen das Gesicht gestreift hatte, was ihn so entsetzt hatte aufschreien lassen, dass Doktor Byrd herbeigestürzt war. Alle hatten sich hinterher über ihn lustig gemacht: Auch ohne Pest gibt es auf einem Schiff so viele Ratten wie Vögel in einem Wald, und daran muss sich gewöhnen, wer zur See fahren will.
    Aber hier gab es keine Spur von Ratten, jedenfalls nicht im Achterkastell. Vielleicht hatten sie sich allesamt in der Bilge versammelt, unten im Schiffsbauch, und warteten dort mit ihren roten Augen im Dunkeln auf frisches Menschenfleisch? Roberto beschloss, der Frage sofort nachzugehen. Wenn es normale Ratten in normaler Anzahl waren, würde er mit ihnen leben können. Und was sonst sollten sie auch sein – fragte er sich und wollte sich's nicht beantworten .
    Er fand eine Büchse, ein Schwert und ein Jagdmesser. Er war Soldat gewesen: Die Büchse war eine leichte Muskete, eine von jenen calivers , wie die Engländer sagten, die man ohne Stützgabel anlegen konnte; er vergewisserte sich, dass Schloss und Pfanne in Ordnung waren, mehr um sicherzugehen, als um sich daranzumachen, eine Rattenhorde mit Kugeln niederzustrecken, außerdem schob er sich auch das Messer in den Gürtel, das gegen Ratten nicht viel hilft.
    Sodann beschloss er, den ganzen Schiffsrumpf von vorne bis hinten zu untersuchen. Aufs Vorschiff zurückgekehrt, stieg erüber eine schmale Treppe, die am Ansatz des Bugspriets hinunterführte, in die Speisekammer, wo er genügend Lebensmittel für eine lange Reise vorfand. Und da sie sich unmöglich über die ganze Dauer der bisherigen Reise so gut hätten halten können, musste die Mannschaft sie erst vor kurzem in einem gastlichen Hafen an Bord genommen haben.
    Es gab Körbe mit frisch geräucherten Fischen, Pyramiden von Kokosnüssen und Fässer mit fremdartig geformten, aber essbar aussehenden Knollen, die sich offenbar über lange Zeit aufbewahren ließen. Dazu Früchte von jener Art, wie sie Roberto nach den ersten Landungen in tropischen Häfen an Bord der Amarilli hatte auftauchen sehen, auch sie widerstandsfähig gegen den Zahn der Zeit, schuppig und stachelig, aber mit einem scharfen Geruch, der gut geschütztes Fleisch und zuckersüße verborgene Säfte versprach. Und aus irgendwelchen Produkten der Inseln musste auch jenes in Säcken gelagerte graue, nach Tuffstein riechende Mehl gewonnen worden sein, mit dem wahrscheinlich das Brot gebacken war, dessen Geschmack an jene faden Knollen erinnerte, welche die Indianer der Neuen Welt Kartoffeln nannten.
    An der Rückwand entdeckte er auch ein knappes Dutzend Fässchen mit Zapfhahn. Er probierte ein wenig vom ersten, und es war frisches Wasser, das erst kürzlich abgefüllt und mit Schwefel versetzt worden war, damit es länger trinkbar blieb. Es war nicht sehr viel, aber wenn man bedachte, dass auch die Früchte seinen Durst stillen konnten, würde Roberto ziemlich lange auf dem Schiff bleiben können . Dennoch steigerten diese Entdeckungen, die ihn lehrten, dass er auf dem Schiff jedenfalls nicht Hungers sterben würde, seine Unruhe nur noch mehr – wie es melancholischen Gemütern ja häufig ergeht, für die jedes Anzeichen von Glück nur Vorzeichen schlimmster Folgen ist.
    Als Schiffbrüchiger auf einem verlassenen Schiff zu landen ist schon recht unnatürlich, aber wenn das Schiff dann wenigstens richtig verlassen wäre, verlassen von Gott und den Menschen als ein unbrauchbares Wrack ohne alle natürlichen oder künstlichen Gegenstände, die es zu einer annehmbaren Behausung machen, dann wäre das noch in der Ordnung der Dinge und der Seefahrerchroniken; jedoch es so vorzufinden, so hergerichtet wie zum Empfang eines willkommenenund erwarteten Gastes, fast wie ein verlockendes Angebot – das schmeckte allmählich nach Schwefel, sehr viel mehr als das Wasser. Roberto fielen gewisse Märchen ein, die ihm seine Großmutter erzählt hatte, und andere in eleganterer Prosa, die er in den Pariser Salons hatte vorlesen hören, Märchen, in denen Prinzessinnen, die sich im Wald verirrt haben, in ein Schloss kommen
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