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Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages

Titel: Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages
Autoren: Umberto Eco
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verliere ich langsam die Hoffnung, Euch eines Tages wiederzusehen.
    Signora, ich schreibe Euch, um Euch, als unwertes Zeichen der Huldigung, die welke Rose meiner Trostlosigkeit anzubieten. Und doch erfüllt mich meine Demütigung mit Stolz, und da zu solchem Privilegio verdammt, erfreue ich mich nun gleichsam einer verabscheuten Rettung: Ich glaube, ich bin seit Menschengedenken das einzige Wesen unsrer Gattung, das schiffbrüchig ward geworfen auf ein verlassenes Schiff.
     
    Aber ist das überhaupt möglich? Nach dem Datum auf diesem ersten Brief zu schließen, müsste Roberto sich gleich nach seiner Ankunft ans Schreiben gemacht haben, kaum dass er Papier und Feder in der Kapitänskajüte gefunden hatte. Dabei muss es doch einige Zeit gedauert haben, bis er wieder zu Kräften kam, denn er war geschwächt wie ein verwundetes Tier. Oder ist es vielleicht eine kleine Liebeslist: Zuerst versucht er sich klarzumachen, wohin er geraten ist, dann schreibt er und tut so, als wäre es vorher. Warum aber, wo er doch weiß, vermutet, fürchtet, dass seine Briefe nie ankommen werden, und sie nur schreibt, um sich zu quälen (um sich qualvoll zu trösten, würde er sagen, aber wir wollen versuchen, uns nicht von ihm die Hand führen zu lassen)? Es ist schon schwierig genug, die Taten und Gefühle eines Menschen zu rekonstruieren, der zwar sicher vor echter Liebe brennt, aber bei dem man nie weiß, ob er das ausdrückt, was er empfindet, oder das, was die Regeln des Liebesdiskurses ihm vorschreiben – doch was wissen wir schon vom Unterschied zwischen empfundener und ausgedrückter Leidenschaft und welche der beiden vorausgeht? Also sagen wir, er schrieb für sich, es war nicht Literatur, er saß wirklich da und schrieb wie ein Jüngling, der einem unmöglichen Traumnachhängt, die Seite mit Tränen tränkend, aber nicht wegen der Abwesenheit der geliebten Person, die schon als Anwesende reines Bild für ihn war, sondern aus Gerührtheit über sich selbst, verliebt in die Liebe ...
    Das könnte schon einen Roman ergeben, aber noch einmal, wo beginnen?
    Ich denke, er hat diesen ersten Brief erst später geschrieben und sich zunächst umgesehen – und was er dabei entdeckt hat, wird er in späteren Briefen schildern. Aber auch hier wieder, wie übersetzt man das Tagebuch eines Menschen, der durch treffende Metaphern sichtbar machen will, was er schlecht sieht, während er nachts mit leidenden Augen umhergeht?
    Roberto wird sagen, dass er sein Augenleiden seit jenem Tag hatte, als er während der Belagerung von Casale den Streifschuss an der Schläfe abbekam. Und das kann auch so gewesen sein, aber an anderer Stelle legt er nahe, dass seine Augen wegen der Pest immer schlechter geworden seien. Er war sicherlich von zarter Konstitution und auch etwas hypochondrisch, wenngleich mit Verstand; die Hälfte seiner Lichtscheu muss an schwarzer Galle gelegen haben und die andere Hälfte an einer Form von Reizung, die womöglich durch die Präparate des Herrn d'Igby noch verschärft worden war.
    Es scheint gesichert, dass er die Reise auf der Amarilli nur unter Deck zurückgelegt hatte, wenn man bedenkt, dass die Rolle des Lichtscheuen, wenn nicht ohnehin seine Natur, so doch zumindest diejenige war, die er spielen musste, um die Machenschaften im Kielraum verfolgen zu können. Mehrere Monate lang im Dunkeln oder im Licht einer Kerze – und dann die Zeit auf dem Brett, geblendet von der fast äquatorialen Tropensonne. Als er auf der Daphne landet, muss er, ob krank oder nicht, das Licht gehasst haben, er verbringt die erste Nacht in der Kombüse, erholt sich ein bisschen und nimmt in der zweiten Nacht eine erste Inspektion der Örtlichkeit vor, danach geht alles Weitere fast wie von selbst. Das Tageslicht macht ihm Angst, nicht nur seine Augen ertragen es nicht, auch die Verbrennungen, die er auf dem Rücken gehabt haben muss, machen es ihm unerträglich, und so verkriecht er sich im Dunkeln. Der schöne Mond, den er injenen Nächten beschreibt, gibt ihm wieder Mut, tagsüber ist der Himmel wie überall, nachts entdeckt er an ihm neue Sternbilder (heroische Devisen und rätselhafte Embleme), und es ist wie im Theater: Roberto gelangt zu der Überzeugung, dass dies für lange Zeit sein Leben sein wird, vielleicht bis zum Tod, er schafft sich schreibend seine Signora neu, um sie nicht zu verlieren, und er weiß, dass er nicht viel mehr verloren hat, als was er schon hatte.
    So flüchtet er sich in seine Nachtwachen wie in einen
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