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Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages

Titel: Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages
Autoren: Umberto Eco
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verurteilt, sie einzurichten. Und es bestürzte ihn, dass sich das Ganze zu einer Spirale fügte, zu einem Schneckenhaus, einem Strudel.
    An dieser Stelle war es, dass er sich an eine relativ neue Kirche erinnerte, die er in Rom gesehen hatte (und nur hier lässt er durchblicken, dass er diese Stadt besucht hatte, vielleicht vor seiner Reise in die Provence). Die betreffende Kirche hatte sich allzu krass sowohl von dem runden Kuppelbau in La Griva als auch von den mit Spitzbögen und Kreuzrippen geometrisch geordneten Schiffen der Kirchen in Casale abgehoben. Jetzt begriff er, warum: Es war, als wäre das Gewölbe jener Kirche ein südlicher Himmel gewesen, der dem Auge Lust machte, immer neue Fluchtlinien auszuprobieren, ohne sich je auf einem Mittelpunkt auszuruhen. Unter jener Kuppel war man sich, wenn man zu ihr hinaufschaute, gleichgültig, wo man stand, immer am Rand vorgekommen.
    Roberto machte sich jetzt bewusst, dass er jenes Gefühl einer verweigerten Ruhe weniger deutlich, weniger theatralisch, dafür aber praktisch erfahren durch kleine Überraschungen von Tag zu Tag, erstmals in der Provence und dann in Paris gehabt hatte, wo ihm jedermann ständig eine Gewissheit zerstört und eine mögliche Art und Weise gezeigt hatte, wie man die Karte der Welt neu zeichnen konnte, ohne dass sich jedoch die Anregungen, die er von allen Seiten erhielt, zu einem fertigen Bild fügen wollten.
    Er hatte von Maschinen gehört, die imstande waren, die Ordnung der Naturphänomene so zu verändern, dass Schweres nach oben strebte und Leichtes nach unten fiel, dass Feuer benetzte und Wasser verbrannte, als könnte der Schöpfer des Universums höchstselbst sich korrigieren und womöglich die Pflanzen und Blumen zwingen, sich gegen die Jahreszeiten zu behaupten, und die Jahreszeiten, einen Kampf mit der Zeit aufzunehmen.
    Wenn aber der Schöpfer zu einem Sinneswandel bereit war, gab es dann noch eine Ordnung, die Er dem Universum auferlegt hatte? Vielleicht hatte Er ihm seit Anbeginn vielerlei Ordnungen auferlegt, vielleicht war Er bereit, sie Tag für Tag zu verändern, vielleicht gab es eine geheime Ordnung, die diesem unaufhörlichen Wandel der Ordnungen und Perspektiven unterlag, aber es war uns nicht bestimmt, sie je zu entdecken, wir folgten eher dem Wechselspiel jener Schein-Ordnungen, die sich mit jeder neuen Erfahrung neu bildeten.
    Womit dann die Geschichte von Roberto de La Grive nur die eines unglücklich Verliebten wäre, der dazu verurteilt war, unter einem übertriebenen Himmel zu leben, und der nicht mit der Idee zurechtkam, dass die Erde sich auf einer elliptischen Bahn bewegt, in welcher die Sonne nur einer der beiden Mittelpunkte ist.
    Was nun wirklich, wie mir wohl die meisten zustimmen werden, zu wenig ist, um daraus eine Geschichte mit einem Anfang und einem Ende zu machen.
     
    Schließlich würde ich, wenn ich aus dieser Geschichte einen Roman hervorgehen lassen wollte, damit nur ein weiteres Mal beweisen, dass man nicht anders schreiben kann, als indem man das Palimpsest einer wiedergefundenen Handschrift verfertigt – ohne sich je der Angst vor dem Einfluss entziehen zu können. Und ich würde auch nicht der kindischen Neugier des Lesers entgehen, der dann würde wissen wollen, ob Roberto die Seiten, mit denen ich mich so ausführlich beschäftigt habe, auch wirklich geschrieben hatte. Ehrlicherweise würde ich antworten müssen, dass sie auch ein anderer geschrieben haben könnte, der womöglich nur so tun wollte, als ob er die Wahrheit sagte. Und so würde ich den ganzen Effekt des Romans ruinieren – bei dem man zwar immer so tun muss, als ob man wahre Dinge erzählt, aber niemals ernsthaft sagen darf, dass man nur so tut.
     
    Und ich wüsste mir auch nicht auszudenken, durch welche letzte Verkettung von Ereignissen Robertos Briefe in die Hand dessen gelangt wären, der sie mir hätte übergeben müssen, indem er sie aus einem Bündel anderer ausgewaschener und zerkratzter Autographen hervorzog.
    »Der Autor ist unbekannt«, würde ich allerdings erwarten, dass er mir sagte, »die Handschrift ist anmutig, aber verblasst, wie Sie sehen, und die Blätter sind nur noch eine verklebte Masse. Was den Inhalt betrifft, nach dem wenigen, was ich habe entziffern können, sind es manieristische Stilübungen. Sie wissen ja, wie man damals schrieb ... Das waren Leute ohne Seele.«

     
    1 Die Wahrheit meiner Behauptung ist für jedermann leicht nachprüfbar in P. A. Leupe, »De handschriften der
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