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Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages

Titel: Die Insel des vorigen Tages - Eco, U: Insel des vorigen Tages
Autoren: Umberto Eco
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selbst wenn sie bei ihrer Ankunft schon kurz davor wäre, ihren letzten Seufzer zu tun, bestünde durchaus noch Hoffnung. Denn wenn der Körper an diesem Punkt ist, kann, wie man weiß, eine starke Emotion ihm neue Kräfte verleihen, und man hat schon Sterbende gesehen, die wieder zu blühen anfingen, als sie hörten, dass der Grund ihres Unglücks beseitigt war.
    Und welche Emotion könnte stärker sein, zumal für jeneSterbende, als den Geliebten lebendig wiederzusehen! Natürlich dürfte ich ihr auf keinen Fall enthüllen, dass ich ein anderer bin als der, den sie geliebt hatte, denn gemeint hatte sie ja mich und nicht ihn; ich würde einfach die Stelle einnehmen, die mir seit jeher zustand. Und mehr noch, ohne es sich bewusstzumachen, würde Lilia eine andere Liebe in meinen Augen verspüren, eine echte und reine Liebe, frei von Lüsternheit und bebend vor Hingabe.
     
    Konnte es sein, fragt sich hier gewiss ein jeder, dass Roberto nicht bedacht hatte, dass ihm diese Rettung nur möglich sein würde, wenn er die Insel wirklich noch am selben Tage, spätestens aber bis zu den Morgenstunden des nächsten Tages erreichte, was angesichts seiner jüngsten Erfahrungen nicht eben wahrscheinlich war? Und konnte es sein, dass ihm nicht bewusst wurde, dass er jetzt plante, wirklich und leibhaftig auf die Insel zu gelangen, um dort eine Person zu finden, die nur in seiner Erzählung dorthin gelangte?
    Aber Roberto war, wie wir gesehen haben, nachdem er zunächst an ein Land der Romane gedacht hatte, das seiner eigenen Welt völlig fremd war, schließlich dazu gelangt, die beiden Welten umstandslos ineinanderfließen zu lassen und ihre Gesetze zu vermischen. Er meinte, er könne die Insel erreichen, weil er es sich so ausdachte, und er könne sich ausdenken, dass Lilia dort zu einem Zeitpunkt eintraf, an dem er selber sich bereits dort befand, weil er es so wollte. Andererseits war Roberto dabei, jene Freiheit, Ereignisse zu wollen und sie verwirklicht zu sehen, dank welcher die Romane so unvorhersehbar werden, auf seine eigene Welt zu übertragen: Endlich würde er die Insel erreichen, und zwar einfach weil er sonst nicht mehr gewusst hätte, was er sich noch erzählen sollte.
    Um diese Idee, die jeder, der uns nicht bis hierher gefolgt wäre, als Narretei oder Verrücktheit abtun würde, ließ er nun seine Gedanken mit geradezu mathematischer Präzision kreisen, ohne sich auch nur eine der Eventualitäten zu verheimlichen, die Verstand und Klugheit ihm nahelegten.
     
    Wie ein General, der am Abend vor der Schlacht festlegt, welche Bewegungen seine Truppen am nächsten Tage vollführensollen, und der sich nicht nur die Schwierigkeiten vorstellt, die sich plötzlich ergeben, oder die Zwischenfälle, die seinen Plan stören könnten, sondern sich auch in den Kopf des gegnerischen Generals hineinversetzt, um dessen Züge und Gegenzüge vorauszusehen und das Kommende zu planen in Konsequenz dessen, was der andere in Konsequenz jener Konsequenzen planen könnte – so erwog und bedachte Roberto die Mittel und die voraussichtlichen Ergebnisse, die Ursachen und die Wirkungen, das Pro und das Kontra.
    Den Gedanken, zum Riff zu schwimmen und es zu überwinden, musste er endgültig aufgeben. In dem Teil, der unter Wasser lag, konnte er jetzt nicht mehr sehen, wo es Passagen gab, und den herausragenden Teil hätte er nur erreichen können, wenn er unsichtbare und sicher tödliche Hinterhalte überwand. Und selbst angenommen, er würde das Riff erreichen, ob über oder unter Wasser, wäre doch keineswegs gesagt, dass er mit seinen dünnen Segeltuchschuhen dort würde gehen können und dass es dort nicht verborgene Spalten gab, in die er stürzen würde ohne die Aussicht, je wieder herauszukommen.
    Also konnte er die Insel nur auf dem Weg erreichen, den das Boot genommen hatte, soll heißen, indem er nach Süden schwamm, außen an der Bucht entlang ungefähr auf der Höhe der Daphne , um dann hinter dem Südkap der Insel nach Osten zu biegen und jene Anlegestelle zu erreichen, von der Pater Caspar gesprochen hatte.
    Dieser Plan war nicht vernünftig, und zwar aus zwei Gründen. Erstens war es Roberto bisher nur mit Mühe gelungen, bis zum Anfang des Korallenriffs zu schwimmen, und schon dort hatten ihn die Kräfte verlassen; es war also nicht sehr vernünftig anzunehmen, er werde eine mindestens vier- bis fünfmal so lange Strecke schwimmen können – und zwar ohne Seil, nicht nur, weil er kein so langes Seil hatte, sondern auch, weil
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