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Die Insel des Mondes

Die Insel des Mondes

Titel: Die Insel des Mondes
Autoren: Beatrix Mannel
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umkehren würden.
    Sie musste sich in Geduld üben. »Mora-Mora.« Seufzend wiederholte sie Norias Lieblingsausspruch: Mora-Mora, lang sam, langsam. Aber Geduld war nicht ihre Stärke, war es noch nie gewesen. Immer wieder hatte sie ihre Mutter und später ihren Ehemann deshalb gegen sich aufgebracht. »Einer jun gen Dame steht Ungeduld so gut zu Gesicht wie Lippenrot oder Flüche«, war eine der unzähligen Weisheiten, die ihre Mutter nicht müde wurde, ihrer Tochter zu predigen. »Eine junge Dame wartet, bis sie gefragt wird, bis sie aufgefordert wird, bis man geruht, sie zur Kenntnis zu nehmen.«
    Und dieses Prinzip hatte besonders für Paulas Geburtstage gegolten, nicht aber für die Geburtstage ihrer Brüder. Nur bei ihr wurde zunächst so getan, als hätte man ihn vergessen. Erst dann, wenn es Paula gelungen war, sich zu beherrschen und nicht den mindesten Unmut zu zeigen, gab es ein Geschenk, das leider oft auch nur eine Enttäuschung war, die sie ebenfalls verbergen musste. Spitzentaschen tücher statt des heiß ersehnten Romans Der Graf von Monte Christo oder weiße Glacéhandschuhe statt der gewünschten Reitstunden.
    Nur einmal war alles ganz anders gewesen, und zwar an dem Tag, an dem sie die blauen Flakons zum ersten Mal gesehen hatte. Schon beim allerersten Betrachten der Flakons hatte Paula an Lapislazuli gedacht, denn ihre Mutter besaß ein Collier aus diesen Steinen, das ihr der Vater von einer Geschäftsreise an den Baikalsee mitgebracht hatte. Doch ihre Mutter trug die Kette nie, weil sie Granat- und Jettschmuck im Stil der von ihr bewunderten Königin Victoria bevorzugte.
    Paula aber liebte das Blau dieser Steine und legte sich die Kette immer heimlich um, wenn sie mit ihrem älteren Bru der Johannes-Karl die Liebesgeschichte von Kaiser Wilhelm I. und der Fürstin Elisa Radziwill nachspielte.
    Der Tag, den Paula später nur noch ihren Lapislazuli-Tag nannte, hatte damit begonnen, dass Paulas störrisches dunkles Haar gescheitelt, zu langen Zöpfen geflochten und zum ersten Mal am Hinterkopf aufgesteckt worden war. Ihre Mutter hatte das Ankleiden an diesem Tag persönlich überwacht und sich vergewissert, dass der Körper ihrer Tochter korrekt in ihr erstes mit Fischbein versteiftes Leibchen gezwängt wurde. Dazu bekam Paula einen hellgrünen Rock mit eingewebten dunkelgrünen Rosenknospen, er war aus dem gleichen Stoff wie der Rock ihrer Mutter, der aber noch mit unzähligen beigen Spitzenvolants und schwarzen Samtschleifen geschmückt war. Und natürlich wurde er über eine Turnüre drapiert. Beide trugen dazu enge Baumwollbatistblusen mit hohem Stehkragen, die ihrer Mutter war allerdings an den Handgelenken offen und mit zahlreichen Bordüren verziert. Neben den sehr weiblichen Formen ihrer Mutter war sich die magere Paula wie ein hässlicher Blaustrumpf vorgekommen, und daran hatte sich nie mehr etwas geändert, nicht einmal nach ihrer Hochzeit. Aber an diesem Morgen war sie noch drei Jahre von einer Eheschließung entfernt gewesen und hatte nicht die leiseste Ahnung gehabt, wie bald sich ihr Leben ändern sollte.
    Es war der 6. Juni 1872, ihr vierzehnter Geburtstag. Ihr Vater hatte sie feucht, aber liebevoll auf die Wangen geküsst, sie dabei mit seinem Kaiser-Wilhelm-Bart gekitzelt und ihr gratuliert.
    Damals hatten sie noch in der großen Villa in Schwabing gelebt, wo Paulas Geschenk im Speisezimmer auf dem Buffet aus dunkler Eiche aufgebaut worden war. Drei leere blaue Glasflakons mit silbernen Verschlüssen standen da und wirkten auf Paula geheimnisvoll und gleichzeitig seltsam schlicht, in dem ansonsten völlig überladenen Zimmer, in dem jeder Zentimeter verziert war mit Bordüren, Quasten, Fransen, Schleifchen, Teppichen und Deckchen.
    »Hier ist nun also dein Geschenk«, hatte ihr Vater gutmütig gebrummt, auf die Flakons gezeigt und sie so endlich von ihrer Ungeduld erlöst. Neben den Flakons lag ein dickes Buch mit einem fleckigen, gepolsterten Ledereinband. Endlich einmal ein Buch zum Geburtstag!
    »Das alles ist von deiner Großmutter Mathilde«, ergänzte ihre Mutter, die das Buch und dann die Flakons betrachtete, als wären sie mit einer ansteckenden Seuche behaftet.
    Paula hatte bisher noch nie auch nur ein Sterbenswort über diese Großmutter gehört. Sie kannte lediglich Großmutter Josefa, die Mutter ihres Vaters, eine verbitterte Frau, die sie nicht mochte und die oberhalb des Königssees einen großen Bauernhof mit Milchkühen bewirtschaftete. Ganz allein, da der Großvater
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