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Die Insel des Mondes

Die Insel des Mondes

Titel: Die Insel des Mondes
Autoren: Beatrix Mannel
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zusammenzunehmen. Deine Entscheidung, dein Leben, murmelte sie vor sich hin. Sie wischte ihre schlammigen Hände an den Seiten ihres langen Kakirocks ab, dessen Kauf sie ständig bereute. Sie musste sich Hosen nähen lassen, alles andere war in diesem Urwald nur hinderlich. Erschöpft lehnte sie sich gegen einen der von Termiten zerbröselten Baumstämme. Schweißtropfen hinterließen kleine saubere Rinnen auf dem Weg von der Stirn zu ihrem Kinn, und ihr Atem beruhigte sich langsam. Sie wandte den Blick nach vorn, aber von ihren Reisegefährten war keiner mehr zu sehen, gerade so, als ob der Regenwald sie verschlungen hätte. Ich könnte hier stehen bleiben, dachte sie, und ich würde mit der Zeit vermodern wie alles hier, würde eins werden mit der Natur. Und wenn du nicht bald weitergehst, dann wird auch genau das passieren, mahnte ihre innere Stimme. Doch Paula war müde, es hatte sie ihre letzte Kraft gekostet, sich aus dem Morast zu befreien. Leider war trotz aller Anstrengungen ihr linker Wanderschuh mitsamt dem dazugehörigen Strumpf in dem Morast versunken. Sie betrachtete ihren nackten Fuß, der im Zwielicht des Regenwaldes blass schimmerte und schon von Fliegen umkreist wurde. Ein Windstoß durchdrang ihre nass geschwitzte Leinenbluse und brachte sie zum Frösteln.
    Sie nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, die sie neben ihrer Ledertasche über der Schulter trug. Ich muss zu den anderen aufschließen, ich muss weiter.
    Seufzend schnallte sie den Tropenhelm fester, der sich bei ihrem Sturz gelockert hatte, dann bückte sie sich, um die Mücken mit der Hand wegzuwedeln. Selbst dieses bisschen Bewegung fiel ihr unsäglich schwer, als ob der Schlamm ihr das Mark aus den Knochen gesaugt hätte. Ein schwarzer Schleier aus Selbstmitleid legte sich über ihr Gemüt. Unwillkürlich schüttelte sie sich. Dieses Gefühl wollte sie hinter sich lassen, sie hatte sich entschieden, sie hatte einen Plan. Paula stand auf und schleppte sich vorwärts. In diesem Augenblick spürte sie an ihrem feuchten Rücken eine flüch tige Berührung, nur einen Hauch. Neugierig drehte sie sich um.
    Eine Wolke von Schmetterlingen, groß wie Kolibris, umflatterte sie vollkommen geräuschlos. Blau leuchteten die Flügel im Halbdunkel des Dschungels, taubenblau wie der Himmel an einem Sommertag in den Alpen, lilablau wie Lavendelfelder, und einige waren genauso blau wie die Flakons, die sie von ihrer Großmutter Mathilde geerbt hatte. Lapislazuliblau. Die seidigen Flügel wirbelten um sie herum, fächelten ihr Luft zu, die plötzlich nicht mehr nur nach Moder und Verwesung roch, sondern auch noch mit einer anderen Nuance gewürzt zu sein schien. Die blaue Wolke formierte sich ständig neu, changierte hin und her und schwebte dann langsam davon. Paula versuchte zu ergründen, was für ein Duft das war, den die blauen Schmetterlinge verströmt hatten, dann schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht, es war Mut, dachte sie. So roch Mut.
    Sie richtete sich auf, unterdrückte ein Stöhnen und setzte sich in Bewegung. Ihr unterer Rücken und das rechte Knie schmerzten von dem Sturz in das Schlammloch. Das vergeht wieder, sagte sie sich, das vergeht, dieser Schmerz ist bedeutungslos gegen das, was du hinter dir gelassen hast, das hier ist nur körperlicher Schmerz. Das hier ist ehrlich. Der Regenwald gibt nicht vor, etwas zu sein, das er nicht ist. Hier erwarten dich Nässe, Verwesung und Insekten, aber auch pure Schönheit.
    Ihr nackter Fuß versank im Schlamm, was sich unerwar tet weich anfühlte. Irgendetwas kitzelte sie nur für einen Mo ment, und fast gleichzeitig spürte sie einen Schmerz wie von einem Wespenstich, und bevor sie ihren Fuß herausziehen konnte, gleich noch einen und einen weiteren.
    Es waren Blutegel, Noria hatte sie gewarnt, in diesem Teil von Madagaskar lauerten sie überall in den tiefen schlammigen Pfützen und Tümpeln, und Noria hatte ihnen gesagt, dass man die Egel nicht abreißen durfte, sondern warten musste, bis sie von selbst abfielen.
    Paula suchte nach einem Baumstamm, der stabil genug war, ihren schmalen Körper zu tragen, humpelte dorthin, setzte sich und versuchte dann doch einen Blutegel abzuziehen. Aber sie waren gierig und hatten sich schon so festgesaugt, dass Paula es in ihrem geschwächten Zustand nicht schaffte. Resigniert beschloss sie zu warten, bis die Blutegel satt waren. Allerdings konnte das eine Weile dauern, und sie begann zu hoffen, dass ihre Reisegefährten ihr Verschwinden bald bemerken und
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