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Die Insel der verlorenen Kinder

Die Insel der verlorenen Kinder

Titel: Die Insel der verlorenen Kinder
Autoren: Jennifer McMahon
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bisschen nach Joe Crowley klang.
    «Du kennst die Geschichte doch», antwortete Peter abwehrend.
    «Das dachte ich immer. Aber jetzt frage ich mich, ob mir etwas entgangen ist.»
    «Erzähl mir das, woran du dich erinnerst», sagte Peter.
    «Ich trat auf die Lichtung, und dort warst du mit Lizzy und Tack. Lizzy weinte. Ihr hattet euch irgendwie gestritten. Und du sagtest, ich käme gerade im richtigen Moment, um beim Abreißen der Bühne zu helfen.»
    Peter nickte.
    «Wir waren wütend und traurig und sind die Sache vollkommen überstürzt angegangen. Lizzy hatte einen Hammer und hieb damit Bretter auseinander. Tack hatte ein Brecheisen. Du hast die Rückwand zersägt.» Rhonda redete jetzt schnell, fast als sagte sie einen Text auf. «Und dann zerrten wir an der Rückwand, und du und ich, wir gerieten darunter. Als Nächstes erinnere ich mich, dass du mich dort unter den Brettern hervorgeholt und rausgeschleppt hast. Ich hatte mich in dem Tuch mit dem Bühnenbild verfangen – in Nimmerland. Ich habe geweint, da bin ich mir sicher. Blut lief mir übers Gesicht und in die Augen, und die brannten, und ich dachte, vielleicht werde ich blind. Du hast auch geblutet, ein rostiger Nagel hatte dir die Stirn zerschnitten. Wir wurden gegen Tetanus geimpft, erinnerst du dich? Und ich dachte, das wäre wie eine Tollwutimpfung. Ich dachte, wir würden mehrere Spritzen in den Bauch bekommen, und weinte wieder in der Ambulanz, als die Schwester uns von den Spritzen erzählte. Wegen des Nähens weinte ich nicht. Das tat überhaupt nicht weh. Und du, du hast bestimmt nicht geweint. Wir waren im selben Raum,aber als sie uns nähten, hatten sie die Vorhänge zwischen uns zugezogen. Sie wollten nicht, dass wir einander dabei sahen. Danach mussten wir ein paar Tage im Bett bleiben, und unsere Eltern sollten uns alle paar Stunden wecken, um sich zu vergewissern, dass mit uns alles in Ordnung ist – damit wir nicht unbemerkt ins Koma fallen oder so.»
    Peter sah Rhonda schweigend an und steckte sich seine zweite Zigarette an. Rhonda beugte sich vor und strich ihm das Haar aus der Stirn, sodass die schmale weiße Narbe zum Vorschein kam. Es war, als stünde dort in kindlicher Schrift die Antwort gemalt:
Das ist das, was passiert ist.
    «Störe ich euch?» Lizzy stand in der geöffneten Tür und blickte zu den beiden auf der Treppe hinunter.
    «Rhonda hat mir gerade von dem Abend erzählt, an dem wir die Bühne abgerissen haben.»
    Lizzy sah Rhonda an und hielt ihr lächelnd die Hand hin, um sie hochzuziehen.
    «Geh ein wenig mit mir spazieren, Ronnie», bat sie. Rhonda stand auf und ging mit ihr die Treppe hinunter, über die gekieste Zufahrt, vorbei an den beiden Mädchen, die im verwilderten Garten spielten und gerade einen Plastiksoldaten in der Erde vergruben. Rhonda schauderte, so sehr erinnerten die beiden sie an Lizzy und sie selbst.
    «Ich muss dir eine Geschichte erzählen.» Lizzys Stimme war ruhig und selbstsicher. Es war eine sanfte Stimme. Die Stimme, mit der man Schlaflieder singt.
    Lizzy führte Rhonda durch den Wald, genau wie der Hase in ihren Träumen. Sie hielt Rhonda noch immer bei der Hand, und dann wandte sie sich ihr zu und betrachtete sie prüfend.
    «Ich erzähle dir jetzt eine Geschichte, und du darfst mich nicht unterbrechen. Du musst genau zuhören, was ich sage. Du brauchst es nicht zu glauben. Im Moment bitte ich dich nur, mir zuzuhören.»
    Rhonda nickte und hatte plötzlich einen Kloß in der Kehle.
    Lizzy fasste Rhonda fest bei der Hand und atmete tief aus. «Bist du so weit?», fragte sie.
    Rhonda nickte. Gemeinsam gingen sie in den Wald.

s?
    4.   September 1993
    Rhonda stand am Fenster und beobachtete Peter, bis dieser mit dem Gewehr in sein Zelt schlüpfte. Kurz darauf sah sie, dass Tack durch den Garten kam, die Zeltlasche aufmachte und ihn besuchte.
    Rhonda trat vom Fenster weg und schlüpfte neben Lizzy ins Bett. Lizzy hatte ihr den Rücken zugewandt. Rhonda legte ihr den Arm um den Bauch und schob sich mit den Knien in Lizzys Kniekehlen, bis sie gemeinsam ein einziges riesiges Fragezeichen unter der Bettdecke bildeten.
    «Erinnerst du dich noch an die Geschichte, die uns unsere Mütter immer erzählt haben?», fragte Rhonda, obwohl sie nicht wusste, ob Lizzy vielleicht schlief. «Dass wir einmal eine eigene Sprache hatten? Wir waren die Einzigen, die einander verstehen konnten.»
    Rhonda spürte, wie Lizzy sich erst versteifte und dann entspannte. Dann spürte sie an Lizzys Beben, dass diese leise
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