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Die Insel der verlorenen Kinder

Die Insel der verlorenen Kinder

Titel: Die Insel der verlorenen Kinder
Autoren: Jennifer McMahon
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die in den See liefen, Gold gewaschen hatte. Lizzy hielt den Glimmer, den sie mit einer alten Kuchenbackform aus dem Sand wuschen, für echtes Silber. Sie bewahrte alles in einer Schachtel auf und sagte, wenn sie einmal groß sei, werde sie einen Spiegel daraus machen lassen.
    «Es wurde schlimm, Rhonda. Richtig schlimm. Als nichts aus seiner Idee mit den Särgen wurde, trank er viel und war immer daheim, und da war er ständig hinter mirher. Er nahm mich mit in seine Werkstatt, und ich musste bestimmte Sachen machen. Er erzählte mir, was sein Vater mit ihm angestellt hatte, und dass Väter diese besondere Art von Liebe in sich trügen. Er gab mir diese Münzen, die Silberdollar. Das war der Lohn für mein Schweigen. Aber weißt du, woran ich immer dachte? An den Fährmann. Du weißt schon, der Kerl, der die Leute in seinem Boot über den Styx in die Unterwelt setzt. Ich hatte in einem von Peters Büchern über ihn gelesen. Bezahlt wurde er mit Münzen, die man auf die Augen der Toten legte. Es kam mir so vor, als bezahlte mein Vater den Fährmann. Nur dass die Übergesetzte immer ich war.»
    Rhonda dachte an den Beutel mit Münzen, der den ganzen Sommer über gewachsen war. Lizzys Piratenschatz.
    «Ich hatte solche Angst, Rhonda. Aber es war mehr als Angst. Ich fühlte mich einsam und verrückt und voller Ekel. Es gab keinen Schutz. Ich versuchte, mich in Captain Hook zu verwandeln, weil ich dachte, so würde es gehen. Ich dachte, wenn ich mich nicht wasche, dreckig bin und scheußliche Sachen sage, lässt er von mir ab. Aber es spielte keine Rolle.»
    Während Lizzy fortfuhr, hatte Rhonda das Gefühl zu fallen – tief in den Kaninchenbau ihrer Träume zu fallen. An den Ort, wo die Erinnerungen wohnen. Wo die Wahrheit verborgen liegt.
    «Ich brauchte lange, um meinen Mut zusammenzunehmen, jemandem davon zu erzählen», erklärte Lizzy. «Aber ich wusste, dass ich es tun musste – ich konnte die Last nicht mehr alleine tragen. Du warst meine beste Freundin, meine geheime Zigeunerschwester, und ich hätte es dirschrecklich gern erzählt. Ich habe es versucht. Nur einmal war ich nahe dran, ein Geständnis abzulegen, nämlich in der Nacht von Peters Geburtstag, als du bei uns geschlafen hast – erinnerst du dich?»
    Rhonda nickte.
Ich habe ein Geheimnis.
    Was, wenn Rhonda sich damals nicht abgewandt hätte? Was, wenn sie eine bessere Freundin gewesen wäre und zugehört hätte?
    «Schließlich beschloss ich, zu Peter zu gehen», fuhr Lizzy fort. «Wenn ich von euch Hilfe wollte, musste ich mit meinem Bruder anfangen. Er war der Älteste – ich dachte, er würde es begreifen, er würde wissen, wovon ich spreche. Aber er wurde wütend. Er sagte, dass ich lüge und dass das völliger Mist sei. Er sagte, dass ich mir diese verrückte Geschichte nur ausdenke, um die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Ich sei eifersüchtig auf Tack und auf dich, ich sei krank im Kopf und dächte mir Lügen aus. Da erzählte ich ihm
alles.
Und das war schwer, Rhonda, es war schwer zu erzählen, was Daddy mit mir machte. Was ich selbst gemacht hatte. Ich meine, ich war elf, Herrgott nochmal. Aber ich erzählte es ihm. Bis in die kleinste, dreckigste Einzelheit, aber er glaubte mir noch immer nicht. ‹Nicht Dad›, sagte er. ‹Dad würde so was
niemals
tun.› Ich weinte und flehte ihn an, mir zu glauben. Peter sagte, er brauche Beweise. Und dann schmiedete er einen Plan. Er wollte, dass ich Daddy an jenem Abend nach der Aufführung zur Bühne locke. Er wollte es mit eigenen Augen sehen. Und so habe ich es ihm am Abend nach der Aufführung gezeigt, genau wie Peter geplant hatte. Ich habe dafür gesorgt, dass er mir geglaubt hat.»
    Lizzy hielt einen Moment lang inne. Sie spitzte die Lippen und spähte über den Fluss ins dichte Gestrüpp des Waldes. Auch Rhonda schaute mit zusammengekniffenen Augen dorthin. Es war ihr, als sähe sie Daniel im weißen Hasenkostüm, wie er die Kinder tief in den Wald zwischen ihren Häusern führte und sie trennte. Lizzy kam als Letzte zurück. Rhonda hatte sich schreckliche Sorgen gemacht. Hatte sie damals etwas geahnt? Einen Verdacht gehegt?
    «Mein Vater kam gerne mit», fuhr Lizzy fort. Mit dumpfer, monotoner Stimme und ausdruckslosem Gesicht beschwor sie wieder den Abend der Aufführung herauf. «Er hatte sich mit Clem gestritten und wollte die Party nur zu gerne verlassen. Er war mehr als nur ein bisschen betrunken. Ich führte ihn durch den Wald über den Pfad bis zur Bühne, und er setzte sich auf
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