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Die Insel der verlorenen Kinder

Die Insel der verlorenen Kinder

Titel: Die Insel der verlorenen Kinder
Autoren: Jennifer McMahon
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weinte.
    «Ich wünschte, ich könnte mich jetzt noch an ein paar Wörter aus unserer Sprache erinnern», sagte Rhonda.
    Aber das war nicht möglich. Und so hielt sie Lizzy so fest wie möglich und wiegte sie sanft, bis beide eingeschlafen waren.

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    25.   Juni 2006
    «Es waren einmal zwei kleine Mädchen», begann Lizzy, «die jedem erzählten, sie seien Schwestern. Und sie waren auch wirklich so gut wie Schwestern. Sie sahen sich ähnlich, redeten ähnlich und hatten die sonderbare Fähigkeit, die Gedanken und Sätze der anderen zu Ende zu bringen. Sie liebten einander sehr.»
    Bis jetzt klang diese Geschichte, ihre Geschichte, wie der Beginn eines Märchens. Hänsel und Gretel. Zwei unschuldige Kinder, die irgendwie von Anfang an dem Verderben geweiht waren.
    Der Weg, der an Tacks und Peters Haus vorbeilief, führte sie in ein Waldgebiet, wo einige Jahre vor Peters und Tacks Grundstückskauf das Holz gefällt worden war. Nun schoss überall Pionierwald hoch: Papierbirke, Feuerkirsche und Pappeln sprossen zwischen alten Zuckerahornbäumen, die damals nicht gefällt worden waren. Der Pfad führte sie zu dem Fluss, der das Grundstück auf einer Seite begrenzte. Am Wasser kam es Rhonda gut zehn Grad kühler vor. Das Ufer war mit Farn bewachsen. Rundum wuchsen Birken und Sassafrasbäume, deren sonderbar gelappte Blätter Rhonda an Handschuhe erinnerten. Als Kinder hatten sie Sassafraszweige abgebrochen, darauf herumgekaut und gespielt, die Stängel wären Zigaretten mit Kräuterlimonadengeschmack.
    Lizzy legte sich auf den Bauch in das Farnbett, und Rhonda schloss sich ihr an und spähte in das leise dahingluckernde Flüsschen, das so klar war wie ein Vergrößerungsglas.Am Rande huschten Wasserläufer darüber weg. Ein grüner Frosch sprang in der Nähe von einem Stein, und Rhonda beobachtete, wie er unter Wasser verschwand. Sie dachte an die Frösche, die sie seziert hatte. An die Zeichnung in ihrem Wohnzimmer. Dann dachte sie über Metamorphosen nach. Verwandlungen. Was der Frosch wohl aus seinem Leben als Kaulquappe erinnern mochte?
    «Die Sache ist die», fuhr Lizzy fort. «Eine der Schwestern hatte ein schreckliches Geheimnis. Etwas, das sie sich der anderen nicht zu sagen traute. Hörst du mir auch genau zu, Ronnie? Weil es ab hier nämlich schwierig wird.»
    Rhonda nickte, betrachtete Lizzys Gesicht und bemerkte die winzigen Fältchen um Augen und Lippen.
    Ob der Frosch seinen eigenen Erinnerungen vertraut? Oder hält er sie für wertlos? Und was wohl mit den Fröschen ist, die zu Prinzen geküsst werden? Woran die sich wohl erinnern? Was die wohl wissen mögen?
    Rhonda fühlte sich plötzlich von Panik ergriffen. Sie wollte nicht, dass Lizzy diese Geschichte erzählte, wie auch immer sie lauten mochte. Wochenlang hatte sie die Wahrheit gesucht, doch jetzt, wo sie kurz davorstand, endlich alles zu begreifen, wäre sie gerne umgekehrt. Aber dafür war es nun zu spät.
    Lizzys nächste Worte waren offen und direkt, sie hatten mit der Traumwelt der Märchen nichts mehr zu tun.
    «Als ich zehn war, fing mein Vater an, nachts in mein Zimmer zu kommen. Er sagte immer, er wolle mich in den Schlaf kuscheln. Vielleicht hat es auch schon früher angefangen. Im Rückblick erinnere ich mich daran, dass er mich über Jahre im Badezimmer besucht hat. Er wusch mich inder Wanne oder wollte mir nach der Toilette den Po abputzen. Aber erst als ich zehn war, kam er in mein Zimmer. Erst da berührte er nicht nur mich, sondern wollte auch, dass ich ihn berührte.»
    Rhonda biss sich auf die Lippen.
Nicht Daniel
, hätte sie gerne gestöhnt, aber das war gegen die Regeln. Außerdem wusste sie, dass es stimmte, oder? Sie fühlte es tief in sich drin und spürte es im Kribbeln der Narbe auf ihrer Stirn. Wie ein schlafender Tiger hatte dieses dunkle Geheimnis immer in ihrem Hinterkopf gelauert.
    «Er hat mich seinen Liebling genannt», fuhr Lizzy fort. «Seinen Stern. Er sagte, es gebe ein geheimes Band zwischen uns, das kein anderer berühren könne. Ich musste versprechen, niemandem davon zu erzählen, denn sonst wäre das Band kaputt und er wäre mir dann sehr böse. Er sagte, es würde mir sowieso keiner glauben. Dass ich ein solcher Glückspilz sei, würde mir keiner abnehmen. Alle würden glauben, ich hätte die Geschichte erfunden.»
    Rhonda blickte ins Wasser. Der Sand am Grund des Flüsschens glitzerte überall dort, wo die Sonne ihn traf. Sie erinnerte sich, wie sie einmal zusammen mit Peter und Lizzy in einem der Bäche,
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