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Die Insel der verlorenen Kinder

Die Insel der verlorenen Kinder

Titel: Die Insel der verlorenen Kinder
Autoren: Jennifer McMahon
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ist wohl eine Art Trost, aber ich wünschte trotzdem, er wäre damals abgehauen und hätte sich irgendwo ein neues Leben aufgebaut.»
    Rhonda nickte. Ihr Vater verstummte. Er blickte aus dem Küchenfenster auf die Veranda, als gäbe es immer noch eine Hoffnung, dass sein bester Freund auftauchte und das Ganze als blöden Scherz entlarvte.
    Die Mädchen draußen kicherten.
    «
Go fish
– du musst dir eine Karte fischen», quietschte Suzy.
     
    Die Polizei schien von der Vermutung auszugehen, dass Daniel von einem der zwei Männer ermordet worden war, denen er viel Geld schuldete: Shane Gokey oder Gordon Pelletier, die inzwischen beide tot waren. Jedermann schien glücklich mit dieser Version – eine Antwort, wie entsetzlich auch immer, war besser, als im Trüben zu fischen. Crowley machte allerdings deutlich, dass der Fall für ihn keineswegs abgeschlossen war, was für sie vier bedeutete, dass es immer noch die Möglichkeit gab, erwischt zu werden. Rhonda war nicht dumm. Sie wusste, dass angesichts der Möglichkeiten moderner Kriminaltechnik ein kleines Beweisstück reichte – ein Haar oder ein Knopf   –, um sie zu überführen. Selbst sie, die zwar nichts von dem Mord gewusst, aber später, als ihr die Wahrheit anvertraut worden war, geschwiegen hatte, hätte sich dann zu verantworten. Rhonda wusste, dass die Wahrheit immer dann ans Tageslicht kam, wenn man es am wenigsten erwartete. In zehn Jahren würde Crowley vielleicht überraschend an ihre Tür klopfen und sagen: «Ich weiß, was Sie getan haben.»
     
    «Das Schlimmste ist, dass wir vielleicht niemals erfahren werden, was wirklich geschehen ist», sagte Clem bedrückt. «Natürlich werde ich mir nie ganz verzeihen, dass ich Daniel damals nicht das Geld geborgt habe, das er brauchte, um seine Schulden bei diesen Leuten zu begleichen. Das Geld, das ihm vielleicht das Leben gerettet hätte.»
    Das kleine Radio in der Küchenecke lief leise, und auf einmal hörte man Van Morrison. Clem ging hinüber und stellte den Apparat lauter. «Herrgott, diesen Song hat Daniel geliebt», sagte er. Er hielt das Radio in Händen und spähte ein wenig schwankend zum Verandafenster hinaus, die Augen auf eine imaginäre Gestalt in der Ferne gerichtet.
    Er hat keine Ahnung,
dachte Rhonda.
Er hat nicht die geringste Idee, was Daniel Lizzy angetan hat und was in jener letzten Nacht wirklich geschehen ist.
Wenn aber Daniels bester Freund nichts davon wusste, dann war ihr Geheimnis vielleicht sicher.
    Justine kam in die Küche, diesmal in einem dem Anlass angemessenen schwarzen Kleid – heute einmal kein Trainingsanzug. Auf ihren Armen stapelten sich schmutzige Teller und Schüsseln, die sie mit einem Klirren in der Spüle absetzte. Das Geräusch riss Clem aus seinen Träumereien.
    «Brauchst du Hilfe?», fragte er seine Frau.
    Sie schüttelte den Kopf, ließ Wasser ein und gab Spülmittel dazu. Clem, Rhonda und dem Radio hatte sie den Rücken zugekehrt.
    Rhonda fiel plötzlich ein, wie ihre Mutter sie damals immer verhört hatte, wenn sie bei Lizzy übernachtet hatte.
Was habt ihr gemacht? Wie lange wart ihr auf? War Aggie da? Peter? Daniel?
    Daniel.
    O Gott, sie hat es die ganze Zeit gewusst.
Rhonda hätte es beinahe laut gesagt. Einen Moment lang stellte sie sich vor, sie würde ihrer Mutter die Hände auf die eckigen Schultern legen, sie umdrehen, ihr direkt ins Gesicht sehen und sagen:
Du hast gewusst, was Daniel gemacht hat, nicht wahr?
    Stattdessen hielt sie sich an einer Stuhllehne fest. Ihr war übel.
    «Bist du dir sicher, dass wir dir nicht helfen sollen?», fragte Clem. «Es gibt viel zu tun.»
    «Das ist schon in Ordnung, Schatz. Aufräumen ist meine Stärke.»
    Ein Schauer durchlief Rhonda, von der Narbe an der Stirn bis zu ihren Zehen.
Aufräumen.
War es denkbar, dass Justine nicht nur über den Missbrauch Bescheid wusste, sondern auch darüber, zu welchem Ende er schließlich geführt hatte? War das Wegwerfen von Lizzys blutiger Kleidung mehr gewesen als bloße hausfrauliche Reinlichkeit?
    Rhonda umklammerte die Stuhllehne noch fester.
    «Kannst du das Radio lauter stellen?», fragte Justine, noch immer mit dem Rücken zu den beiden anderen. «Ich möchte die Wetteransage hören.»
    Clem stellte lauter, und der Moderator verlas die neuesten Nachrichten. An erster Stelle kam die Meldung, dass Ernestine Floruccis Leiche am frühen Vormittag von Campern auf der Nordseite des Sees gefunden worden war.
    Rhonda stieß einen Seufzer aus, der fast ein leiser Schrei
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