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Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen
Autoren: white
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Mittag hin aufbauenden Hitze ab. Johanna beobachtete mit großen Augen die Ochsenkarren und Turban tragende Männer in wallenden Gewändern, die gebückten Rücken der Frauen auf den Feldern, und einmal, als der Zug hielt, tauschte sie sogar Blicke mit einer am Kinn tätowierten Frau. Ihr gefiel, was sie sah, doch sie war trotzdem erleichtert, als sie sich ins Zimmer ihres Kairoer Hotels zurückziehen konnte – im Gegensatz zu Leah, die beim Versuch, einen Blick in die lockenden Gassen jenseits der Hotelmauer zu erhaschen, beinahe übers Balkongeländer kippte. Noch vor Sonnenaufgang weckte sie der tausendstimmige Ruf der muselmanischen Muezzins, ein gespenstischer Chor, der Johanna deutlich vor Augen führte, dass sie die Sicherheit der christlichen Welt verlassen hatte. Nach dem Frühstück hatte schon der nächste Programmpunkt auf der Tagesordnung gestanden: eine Ausfahrt zu den berühmtesten Bauwerken der Welt, den Pyramiden von Gizeh.
    Johanna erhob sich, klopfte den Sand aus den Draperien und Falten ihres Rocks und setzte ihren Weg zu Füßen der Sphinx fort. Als sie die gewaltige Brust der Statue erreichte, legte sie den Kopf in den Nacken und blickte zu dem nasenlosen Gesicht auf. Worauf waren die unergründlichen steinernen Augen gerichtet? Was mochte sie nach endlosen Jahrhunderten, in denen die Menschen in ihrer Gegenwart respektvoll den Kopf geneigt hatten, von den ausländischen Reisenden halten, die sie seit einigen Jahrzehnten mit offenen Mäulern begafften?
    Aus der Nähe drangen Männerstimmen. Johanna umrundete eine niedrige Dünenkuppe. Mit dem Rücken zu ihr stand der Vater, vertieft in eine Unterhaltung mit dem gut aussehenden Herrn vom Schiff: Friedrich von Trebow. Johannas Herz machte einen Satz, und ein wenig ärgerlich fühlte sie ihre Wangen heiß werden. Zum Umkehren war es zu spät, denn von Trebow hatte sie bereits bemerkt.
    »Fräulein Uhldorff!«, rief er aus. »Welche Freude, Sie zu sehen.«
    »Johanna?« In der Stimme ihres Vaters schwang Erstaunen.
    Johanna wusste, dass er einen Alleingang von Leah erwartete, ganz sicher aber nicht von ihr, der vernünftigen Älteren, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, der zarten Mutter zur Seite zu stehen. Oder zu deren Aufgabe es gemacht worden war, dachte Johanna mit einem Anflug von Bitterkeit. Wie zur Bestätigung huschten die Augen des Vaters suchend umher. »Wo ist deine Schwester?«
    Ernüchtert wies sie mit dem Daumen über die Schulter. »Dahinten. Sie zeichnet.«
    Sein Blick ging in die angezeigte Richtung. »Da ist niemand. Nur Sand«, bemerkte er.
    Johanna blickte zu dem Hügel, auf dem sie ihre Schwester vor kaum einer halben Stunde getroffen hatte. Er war tatsächlich leer. Sie zuckte die Achseln. »Dann hat sie ihre Zeichnung beendet und ist zu den Damen zurückgekehrt.«
    »Ihre jüngere Tochter hat ein bemerkenswertes Talent«, sagte von Trebow.
    »Nicht wahr?« Der Vater platzte beinahe vor Stolz. »Sie zeichnet, seit sie den ersten Graphitstift in die Finger bekam. Es gab sogar schon Interessenten, doch sie weigert sich, ihre Zeichnungen herzugeben.«
    »Wie schade. Ich hatte insgeheim mit dem Gedanken gespielt, ihr ein oder zwei Bilder abzukaufen.«
    Der Vater lachte. »Sie können gern Ihr Glück versuchen. Aber ich warne Sie: Leah ist dickköpfig.«
    »Das nennt man wohl eine charmante Untertreibung«, murmelte Johanna.
     
    Leah befand sich nicht unter den bei den Kamelen wartenden Damen. Nach aufgeregtem Hin und Her stellte sich heraus, dass Johanna sie als Letzte gesehen hatte.
    »Ich wähnte sie bei dir«, sagte ihre Mutter mit vorwurfsvollem Unterton. »Ich sah dich dieselbe Düne hinaufklettern wie sie.«
    »Es tut mir leid«, schnappte Johanna zurück. »Aber ich bin nicht ihr Kindermädchen.«
    »Es gehört sich ohnehin nicht, dass ein junges Mädchen allein hier herumläuft. Auch du nicht.«
    Johanna platzte der Kragen. »Ob es sich gehört oder nicht, ist wirklich zweitrangig, Mutter! Leah ist verschwunden, und wir müssen sie suchen.«
    Der Vater, Friedrich von Trebow und einige andere Männer schwärmten in alle Richtungen aus. Johanna wollte sich ihnen anschließen, doch die Mutter hielt sie mit festem Griff zurück. »Bleib hier. Mir ist vor Aufregung ganz schwindelig geworden.«
    Johanna gehorchte widerwillig. Sie wollte bei der Suche helfen. Und, wie sie sich eingestand, in Friedrich von Trebows Nähe bleiben. Um Leah machte sie sich keine übermäßigen Sorgen. Wahrscheinlich hatte sich die Schwester
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