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Die Insel der Orchideen

Die Insel der Orchideen

Titel: Die Insel der Orchideen
Autoren: white
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verpflichtet. Steif und ein wenig unbehaglich lehnte der Mann gegen den Stein, während Leah ihn mit Hingabe zeichnete. Der hagere Mann mochte Mitte dreißig sein und trug einen verschlissenen hellbraun und weiß gestreiften Kaftan über einem kragenlosen Hemd. Auf den kurzgeschorenen Haaren thronte die weiße Baumwollkappe der Muselmanen. Der Schmutz in den Rillen seiner Hände ließ sich wahrscheinlich nicht mehr fortwaschen, und die Fingernägel waren gelb und eingerissen. Der Ägypter war unzweifelhaft arm, ein Bauer aus der Umgebung vielleicht, der sich durch die Schaulustigen ein Zubrot verdiente. Johanna seufzte. Aus unerfindlichen Gründen zog Leah es vor, die einfachen Leute auf Papier zu bannen; während der Passage nach Alexandria hatte sie zur hellen Begeisterung aller anwesenden Klatschbasen sogar die Matrosen gezeichnet. Manchmal fragte sich Johanna, ob es Leah Freude machte, für Empörung zu sorgen, oder ob sie es einfach nicht bemerkte. Sie trat neben ihre Schwester.
    »Du bekommst einen Sonnenstich«, stellte sie fest. »Wo ist dein Hut?«
    Leahs Hände flatterten zum Kopf. Auf ihrem Gesicht breitete sich Verwunderung aus, als sie außer wilden Locken und verirrten Kämmen nichts fand. »Vorhin war er noch da«, sagte sie.
    »Vorhin? Vorhin lag er neben dir im Sand. Und da ist er wahrscheinlich noch. Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, wie teuer so ein Hut ist?«
    »Ich …«
    »Von deinen zerrissenen Strümpfen ganz zu schweigen«, schnitt Johanna ihr das Wort ab. Es tat gut, dem Ärger Luft zu machen. Leider bewirkte ihr Ausbruch nur, dass auch Leah auffuhr.
    »Ich habe nicht um den blöden Hut gebeten! Wer braucht schon so ein unpraktisches Ding? Und überhaupt.« Sie zerrte an ihrem Rockstoff und riss dabei eine der Schleifen ab. »Mit so einem Monstrum kommt man nirgendwo hin. Überall bleibt es hängen, ständig trete ich auf den Saum oder mache es schmutzig.« Sie zeigte auf den Vater. »Papa hat’s gut mit seinen bequemen Hosen.«
    Johanna hörte ihr mit wachsendem Ärger zu. Insgeheim musste sie der Schwester recht geben – hatte sie heute nicht schon ähnliche Gedanken gehegt? Aber Hosen? »Es ist genug«, herrschte sie die Jüngere an. »Hosen sind indiskutabel, also wirst du wohl oder übel mit Kleidern und Röcken vorliebnehmen. Benimm dich endlich deinem Alter entsprechend.«
    »Wenn es bedeutet, dass ich so langweilig werden muss wie du, verzichte ich dankend.« Mit diesen Worten stand Leah auf und ging davon.
    Johanna zitterte am ganzen Leib. Die Worte der Schwester trafen sie im Innersten. Langweilig? War sie wirklich so vorhersehbar? Sie musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht in Tränen auszubrechen. Eine Hand legte sich auf ihren Arm. Der Vater.
    »Habt ihr euch gestritten?«, fragte er. »Leah stürmte gerade mit verkniffenem Mund an mir vorbei und hat sich schmollend an den Abstieg gemacht.«
    »Wir hatten eine Meinungsverschiedenheit«, sagte sie müde. »Nichts Wichtiges.«
    Der Vater sah ihr forschend ins Gesicht. »Ihr streitet euch oft«, murmelte er, mehr zu sich selbst als zu Johanna. »Das ist bedauerlich, aber unvermeidlich bei zwei derart temperamentvollen Töchtern.«
    Sie schniefte. »Temperamentvoll? Leah hat mich vor wenigen Augenblicken als langweilig bezeichnet.« Jetzt weinte sie tatsächlich.
    Der Vater nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. »Gib nichts darauf«, sagte er. »Wisch dir die Tränen ab. Hinter dir steht nämlich ein junger Herr, der dich ganz und gar nicht langweilig findet.« Er gab ihr einen Klaps auf die Wange und schob sie von sich.
     
    Wenig später war Johanna mit sich und der Welt wieder im Reinen. Der Fremdenführer, ein englischer, in Kairo ansässiger Assistent der Schifffahrtslinie P&O, hatte mit Hilfe seines ägyptischen Faktotums einen riesigen Picknickkorb auf die Pyramide geschleppt. Sogar ein blütenreines Damasttuch, feine Gläser und Porzellan fehlten nicht, um das exklusive Picknick mit Stil zu zelebrieren. Flankiert von ihrem Vater zur Rechten und Herrn von Trebow zur Linken kostete Johanna von den reichlich aufgedeckten Leckereien. Sie mied das englische Roastbeef und probierte lieber die ägyptischen Köstlichkeiten: weiches, ungesäuertes Brot; Kichererbsenpüree, Humus genannt; Baba Ghanouj, eine fruchtige Paste aus raffiniert gewürzten Auberginen, Sesam und Tomaten; kleine gebratene Rollen aus Lammhack; gefüllte Eier mit Oliven; Fisch in einer dicken roten Soße, die verführerisch nach Tomaten, Piment
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