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Die Insel der Krieger

Die Insel der Krieger

Titel: Die Insel der Krieger
Autoren: Christina Manz
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Weg beschritt, der ihn hinaus aus dem Dorf und hi n ein in das angrenzende Waldgebiet führte. Es waren nur wenige Schri t te, die man durch die lichten Baumreihen gehen musste, ehe der Weg wieder aus dem Wäldchen herausführte. Jenseits der Bäume deutete nichts als eine verlassene Ziegelei darauf hin, dass es ganz in der Nähe ein Dorf gab. Grund dafür war der See. Kaum hatte man den Hain hinter sich gelassen, wurde der Blick auf einen See frei, der sich une r gründlich und geheimnisvoll in unbestimmte Ferne erstreckte. Die Menschen im Dorf mieden ihn. Nalig jedoch fühlte sich fortwährend zu ihm hingezogen. In zwei Tagen würde er diesen Weg zum letzten Mal gehen. Am Ufer stehend starrte Nalig auf die schimmernde, fast schwarze Oberfläche. Der Anblick erfüllte ihn mit Kälte. Mit einem hoffnungsleeren Seufzen sank er in das knöchelhohe Gras und blieb dort sitzen. Angestrengt versuchte er, an nichts zu denken, während er mit dem Anhänger der Kette spielte, die einst seiner Mutter gehört hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben war Nalig froh, dass seine Mutter nicht hier war, um ihn so zu sehen.
    Womöglich hätte er den ganzen Tag am Ufer gesessen, hätte sich nicht plötzlich im Schilf zu seiner Rechten etwas geregt. Zwar hob er den Kopf, doch er wandte sich nicht um, denn schon ehe die Gestalt hervortrat, wusste er, wer es war. »Du bist ja schon wieder hier«, sagte eine sanfte Stimme. Sie klang nicht vorwurfsvoll, eher besorgt. Ein dünnes Mädchen, das ein wenig kränklich wirkte, schwebte am Ufer entlang auf Nalig zu. Ilia war die Tochter des Schmieds. Sie war einige Jahre jünger als Nalig und lebte im selben Dorf. Mit ihren dürren Gliedern und ihrem weißen Kleid wirkte sie ein wenig gespenstisch. Nahezu geräuschlos trat sie auf ihn zu und ließ sich neben ihm nieder. Sie trug keine Schuhe und ihr dunkelbraunes Haar hing lose bis zu ihrer Hüfte herab. Sie zog ein paar Kletten aus der zottigen Mähne. »Du bist früh auf«, stellte Nalig fest. »Ich finde wirklich, dass du nicht hier sein solltest«, entgegnete Ilia, ohne auf ihn einzugehen. »Und warum bist du dann hier?« »Weil ich auf dich gewartet habe. « Nun sah Nalig sie an. Ihre großen, grünen Augen schimmerten wie Smaragde und sie war ihm so nahe, dass er sein Spiegelbild in ihnen sehen kon n te. Die Offenheit, mit der sie zu ihm aufblickte, rang ihm ein Lächeln ab. Seine Gesichtsmuskeln verkrampften sich ob dieser ungewohnten Anstrengung. Seit Tagen war Ilia die Einzige, mit der er sprach. Von ihr fühlte er sich verstanden. Sie begegnete ihm nicht wie einem To d kranken oder auf schreckliche Weise Gebrandmarkten, wie es die anderen Dorfbewohner taten. Nun waren sie beide Außenseiter. Seit Ilias Bruder vor zwei Jahren verschwunden war, streifte sie oft alleine umher. Sie mied die Menschen so gut sie konnte, die sie für ihr U n glück verantwortlich machte, und wirkte stets etwas verwahrlost. Nalig kannte das Mädchen seit dessen Geburt und ihr Bruder war ihm ein guter Freund gewesen. So konnte er den Wandel, den Ilia durchg e macht hatte, durchaus verstehen – in den letzten Tagen besser als je zuvor. »Hast du mit deinem Vater gesprochen?«, wollte sie wissen. »Nein. « Nalig erhob sich. »Das solltest du aber. « Ilia folgte ihm. »Es gibt nichts, was ich meinem Vater zu sagen habe. « »Dann sag ihm wenigstens das. « »Er ist doch derjenige, der nicht mit mir sprechen will. « »Natürlich will er, er weiß nur nicht wie. « Nalig bahnte sich we i ter seinen Weg durch das Gestrüpp am Ufer. »Jetzt warte doch. « Der Junge spürte, wie sich Ilias schlanke Finger um seinen Arm schlossen und blieb stehen. »Ich bitte dich, ich wünschte, ich hätte noch einmal die Gelegenheit, mit meinem Bruder zu sprechen. Für dich wird es bald keine Rolle mehr spielen. Aber tu das deinem Vater nicht an. Lass ihn wenigstens wissen, dass du nicht ihm die Schuld gibst. « Nalig ru n zelte die Stirn. »Er ist der Letzte, dem ich die Schuld daran geben würde. « »Sag das nicht mir, sondern ihm. « Sie legte ihm die Hände auf die Brust und in ihren Augen schimmerten Tränen. »Ich werde vers u chen, mit ihm zu sprechen. Versprochen. « Zögerlich schlang der Junge seine Arme um das Mädchen und drückte es sachte an sich.
    Zurück auf dem Hof jedoch schwanden seine guten Vorsätze. Sein Vater saß hinter dem Haus auf einer kleinen Holzbank und schnitzte unbeholfen an einem Ast. Sein Blick war finster und auf Naligs Gruß hin brummte er nur.
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