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Die Insel der besonderen Kinder

Die Insel der besonderen Kinder

Titel: Die Insel der besonderen Kinder
Autoren: Ransom Riggs
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diese Inschrift anbringen und nicht ich.«
    Olive fuhr mit der Hand über die rauhen Markierungen. »Glaubst du, dass eines Tages eine andere Ymbryne kommt und hier eine Zeitschleife ins Leben ruft?«
    »Das hoffe ich«, sagte er. »Das hoffe ich von ganzem Herzen.«
    * * *
    Wir beerdigten Victor. Bronwyn hob ihn mitsamt dem Bett hoch und trug ihn nach draußen, wo sich alle Kinder auf der Wiese versammelt hatten. Sie drückte ihm einen letzten Kuss auf die Stirn und wickelte ihn in Laken. Wir Jungs hoben das Bett wie Sargträger an den Ecken hoch und trugen es in den Krater hinunter, den die Bombe gerissen hatte. Dann kletterten alle bis auf Enoch wieder nach oben. Er holte einen Tonsoldaten aus seiner Tasche und legte ihn vorsichtig auf die Brust des Jungen.
    »Das ist mein bester Mann«, sagte er. »Damit du nicht allein bist.« Der Tonsoldat setzte sich auf, doch Enoch stieß ihn mit dem Daumen wieder runter. Daraufhin rollte sich die Figur mit einem Arm unter dem Kopf auf die Seite und schien sich schlafen zu legen.
    Nachdem wir den Krater zugeschüttet hatten, verteilte Fiona ein paar Strauchgewächse und Efeu auf dem Boden und ließ alles zuwachsen. Als die anderen mit dem Packen fertig waren, befand sich Adam wieder an Ort und Stelle, aber jetzt markierte er Victors Grab.
    Nachdem sich die Kinder vom Haus verabschiedet hatten – einige packten ein Stück Ziegel oder ein paar Blumen als Andenken ein –, unternahmen wir einen letzten Ausflug über die Insel: durch die verkohlten, rauchenden Wälder und das von Bomben durchpflügte Moor, über den Hügelkamm und hinunter ins Dorf, wo Torfrauch in der Luft hing. Die Bewohner standen auf ihren Veranden oder im Türrahmen. Sie wirkten erschöpft und vom Schock noch ganz benommen. Die vorbeiziehende Parade der sonderbar aussehenden Kinder schien ihnen gar nicht aufzufallen.
    Wir waren ruhig, aber erwartungsvoll. Die Kinder hatten nicht geschlafen, doch das sah man ihnen nicht an. Es war der 4 . September, und zum ersten Mal seit langer Zeit liefen die Tage weiter. Einige der Kinder behaupteten, sie könnten den Unterschied spüren, die Luft in ihren Lungen fühle sich kräftiger an, das Blut würde schneller durch ihre Adern strömen. Sie fühlten sich lebendiger.
    Ich mich auch.
    * * *
    Ich hatte immer davon geträumt, meinem so gewöhnlichen Leben zu entfliehen. Dabei war mir nie aufgefallen, wie außergewöhnlich es in Wahrheit war. Genauso wenig hatte ich mir vorstellen können, dass ich mein Zuhause jemals vermissen würde. Als wir später in der anbrechenden Dämmerung die Boote beluden, ich mich an diesem neuen Übergang zwischen Vorher und Nachher befand, dachte ich an alles, was ich zurückließ – meine Eltern, meine Heimatstadt, meinen einstmals besten und einzigen Freund –, und ich spürte, dass dieser Abschied nicht so war, wie ich es mir vorgestellt hatte: so, als würde man eine große Last abwerfen. Die Erinnerung entpuppte sich als etwas Greifbares und Schweres, und ich würde sie mitnehmen. Trotzdem war es für mich genauso unmöglich, in dieses alte Leben zurückzukehren, wie für die Kinder in ihr zerbombtes Haus. Die Türen unserer Käfige waren aufgestoßen worden.
    Zehn besondere Kinder und ein besonderer Vogel mussten in drei Ruderbooten untergebracht werden. Etliche Sachen mussten wir an der Anlegestelle zurücklassen. Nachdem alles verstaut war, schlug Emma vor, dass einer von uns ein paar Worte sagen sollte – eine Rede, mit der die vor uns liegende Reise geweiht wurde. Aber niemand schien zu wissen, was er sagen sollte. Da hielt Enoch den Käfig mit Miss Peregrine hoch, und sie stieß einen langen, beeindruckenden Schrei aus. Wir antworteten ebenfalls mit einem Schrei, ein Ausdruck des Sieges, aber auch der Wehklage über das, was wir verloren hatten und uns zurückholen mussten.
    Hugh und ich ruderten das erste Boot. Enoch sah uns vom Bug aus zu, bereit, einen von uns irgendwann abzulösen, während Emma mit Sonnenhut auf dem Kopf die kleiner werdende Insel betrachtete. Die See wirkte wie eine Scheibe aus gewelltem Glas und erstreckte sich endlos vor uns. Es war ein warmer Tag, aber vom Meer her wehte eine kühle Brise. Ich hätte Stunden so weiterrudern können und wunderte mich, dass eine Welt zu Kriegszeiten so friedlich sein konnte.
    Im nächsten Boot saß Bronwyn. Sie winkte mir zu und hob Miss Peregrines Fotoapparat ans Auge. Ich lächelte sie an. Wir hatten keines der alten Fotoalben mitgenommen. Vielleicht wurde das
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