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Die Insel der besonderen Kinder

Die Insel der besonderen Kinder

Titel: Die Insel der besonderen Kinder
Autoren: Ransom Riggs
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ein Vogel?«, fragte ich Großvater eines Nachmittags. Ich war damals sieben Jahre alt und beäugte ihn misstrauisch über den Tisch hinweg, an dem er mich gerade bei Monopoly gewinnen ließ.
    »Ein großer, Pfeife rauchender Habicht«, antwortete er und blätterte durch den dünner werdenden Stapel seiner orangefarbenen und blauen Geldscheine.
    »Du musst mich für sehr dumm halten, Grandpa.«
    »Das wirde ich niemals tun, Yakob. Aber wenn du mir nicht glaubst, ist das dein Problem.« Ich hatte ihn gekränkt. Das konnte ich daran merken, dass sein polnischer Akzent, den er nie ganz hatte ablegen können, hervortrat, so dass er
wirde
sagte statt
würde.
    Ich bekam sofort ein schlechtes Gewissen und fragte ihn: »Aber warum wollten dir die Monster etwas tun?«
    »Weil wir nicht wie andere Menschen waren. Wir waren besonders.«
    »Wie besonders?«
    »Ach, auf alle möglichen Arten«, antwortete er so beiläufig, als würden wir über das Wetter sprechen. »Da gab es ein Mädchen, das konnte fliegen, einen Jungen, in dem Bienen lebten, Bruder und Schwester, die mühelos Felsblöcke zu stemmen vermochten …«
    Es war schwer zu sagen, ob er das ernst meinte. Andererseits war mein Großvater nicht dafür bekannt, dass er Unsinn erzählte. Als er mein zweifelndes Gesicht sah, runzelte er die Stirn.
    »Also gut, du glaubst mir nicht«, sagte er. »Aber ich habe Fotos!« Er schob seinen Gartenstuhl zurück und ging ins Haus, ließ mich allein auf der verglasten Veranda zurück. Nur eine Minute später war er wieder da und hielt eine alte Zigarrenkiste in den Händen. Er setzte sich und nahm vier zerknitterte und vergilbte Schnappschüsse heraus. Ich beugte mich darüber, um sie mir anzusehen.
    Der erste war eine unscharfe Aufnahme von etwas, das aussah wie Kleider, in denen kein Mensch steckte. Entweder das – oder dieser Mensch hatte keinen Kopf.
    »Natürlich hat er einen Kopf!« Großvater grinste. »Du kannst ihn nur nicht sehen.«
    »Warum nicht? Ist er unsichtbar?«
    »Da schau sich einer diesen cleveren Burschen an!« Er zog die Augenbrauen hoch, als hätte ich ihn mit meinen kombinatorischen Fähigkeiten überrascht. »Sein Name war Millard. Witziger Bursche. Manchmal sagte er: ›Hey Abe, ich weiß, was du heute getan hast‹, und dann erzählte er dir, wo du gewesen warst, was du gegessen hattest und ob du heimlich in der Nase gebohrt hattest. Manchmal ist er dir mucksmäuschenstill gefolgt und hat dich beobachtet. Er trug dabei keine Kleider, damit du ihn nicht sehen konntest.« Großvater schüttelte den Kopf. »Das stelle man sich mal vor!«
    Er reichte mir noch ein Foto. Nachdem er mir einen Moment Zeit gelassen hatte, es zu betrachten, fragte er: »Und? Was siehst du?«
    »Ein kleines Mädchen.«
    »Und?«
    »Sie hat eine Krone auf.«
    Er tippte auf den unteren Teil des Bildes. »Was ist mit ihren Füßen?«
    Ich hielt mir den Schnappschuss näher an die Augen. Die Füße des Mädchens berührten nicht den Boden – aber es sah auch nicht so aus, als würde sie hüpfen. Mir fiel die Kinnlade runter.
    »Sie fliegt!«
    »Fast«, sagte Großvater. »Sie schwebt. Allerdings hatte sie sich nicht besonders gut unter Kontrolle. Wir mussten sie mit einem Seil festbinden, damit sie nicht davonschwebte!«
    Ich starrte gebannt auf das finster dreinblickende, puppenartige Gesicht. »Ist das wahr?«
    »Natürlich!«, knurrte er. Dann riss er mir das Foto aus der Hand und gab mir ein anderes – das eines kleinen Jungen, der einen Felsblock stemmt. »Victor und seine Schwester waren nicht besonders helle«, sagte er. »Aber, Junge, die waren vielleicht stark!«
    »Er sieht gar nicht danach aus«, erwiderte ich und betrachtete die dünnen Ärmchen.
    »Glaub mir, er war es. Einmal sind wir beide zum Angeln rausgefahren. Das Boot blieb auf einer Sandbank stecken, und er hat es herausgehoben, obwohl ich noch drinsaß!«
    Das letzte Foto war das sonderbarste. Grandpa Portman reichte es mir, und ich musste zweimal hingucken. Es war der Hinterkopf eines Jungen – auf den ein Gesicht gemalt war.

    Während Großvater erklärte, starrte ich das Bild unverwandt an. »Er hatte zwei Münder, siehst du? Einen vorn und einen hinten. Deshalb ist er auch so groß und dick geworden!«
    »Aber das ist nicht echt«, sagte ich. »Das Gesicht ist nur aufgemalt.«
    »Sicher ist die
Farbe
aufgemalt. Das war für einen Zirkusauftritt. Aber wenn ich’s dir doch sage, er hatte zwei Münder. Du glaubst mir nicht?«
    »Ich glaube dir«,
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