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Die innere Freiheit des Alterns

Die innere Freiheit des Alterns

Titel: Die innere Freiheit des Alterns
Autoren: Ingrid Riedel
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gelingen, wenn wir uns auch dessen vergewissern, was wir geschafft und bewirkt haben und es in unsere wache Erinnerung mitnehmen. Auch wenn ich jene anregende Stelle nicht mehr bekleide, bleibe ich ein schöpferischer Mensch. Darauf kommt es jetzt an.

Prägende Zeitgeschichte
    Es ist auffällig, dass gerade in den Phasen des Alterns die realen Erinnerungen an Kindheitserlebnisse während der NS-Zeit und des Krieges stark ins gegenwärtige Bewusstsein einbrechen können, gelegentlich kehrt das Trauma als eine Art Flashback zurück, als lasse die Kraft zur Abwehr, zur Steuerung in den späteren Jahren nach. Diese Beobachtung gilt natürlich nicht nur für Kriegserinnerungen, sondern auch für andere traumatische Erfahrungen, die wir in Kindheit und Jugend gemacht haben. Auch die Träume, zum Beispiel einer Frau aus jüdischer Familie, spiegeln die Wucht, mit der solche traumatischen Erinnerungen an wirklich Erlebtes in das Gegenwartsbewusstsein einbrechen und die gesamte Erinnerung an die Lebensgeschichte dunkel einfärben können – auch wenn diese in Wirklichkeit aus den Jahren vor 1933 und aus den Jahrzehnten nach 1945 auch andere, freundliche Erinnerungen enthält.
    So träumt Hanna von einem zerstörten Gelände, mit den jetzt leeren Zellen ehemaliger Gefangener, mit einer Martersäule. Doch trifft sie unter den wenig beteiligten Besuchern dieses Geländes auf einen sehr nachdenklichen und betroffenen Mann, der etwas zu begreifen scheint. Zu ihm fasst sie ein wenig Vertrauen, über das alles sprechen zu können. Wie schwer hatte sie es ein Leben lang, Menschen zu finden, die ihre angst- und schambesetzten Erlebnisse aus der NS-Zeit wirklich hören, wirklich verstehen wollten! In dem Traum aus ihren späten Jahren kündigt sich endlich ein Gesprächspartner an.
    Zeitgeschichtliche Erfahrungen, die einen Schock ausgelöst haben und die Angst weckten, in einem irgendwie verbrecherischen Regime zu leben, sind bei vielen von uns damaligenKindern zum Beispiel die Beobachtung von Gefangenentransporten, bei denen es brutal zuging. Dazu gehört auch die Beobachtung von Geschäftsverwüstungen: jüdische Geschäfte, bei denen man zuvor gerne eingekauft hatte. Woher war plötzlich solch ein Hass, eine solche Zerstörungswut gekommen? Fragen, die man auch als Kind gerne gestellt hätte. Auch ältere Geschwister schwiegen manchmal gegenüber den jüngeren; als Kinder durften sie nicht hinsehen, und die Jüngeren wagten die Älteren nicht zu fragen. Oft lag wie ein Tabu das Gebot, über bestimmte Vorgänge zu schweigen, über der ganzen Familie. Hinzu kommt für diese ganze Generation, dass die Väter als schützendes Gegenüber fehlten – auch als die, die man hätte fragen können –, weil sie weitgehend »eingezogen« waren, also während entscheidender Kindheitsjahre für Töchter und Söhne wie nicht vorhanden. Viele kamen aus späterer Gefangenschaft zurück, häufig erst Jahre nach dem Krieg, oft verstört und wie Fremde trafen sie in der Familie ein.
    Von allen Erinnerungen die häufigsten, die auch im Alter wieder mit frischem Erschrecken erzählt werden, sind die Erlebnisse mit den Tieffliegerangriffen am Ende des Krieges, wobei Zivilisten, viele von uns Kindern darunter, wie die Hasen gejagt und beschossen wurden. Ein Bericht, den Sabine Bode zitiert: »Als wir ausgebombt waren und zu Fuß von Bonn nach Göttingen gingen, Mütterchen und ich, da habe ich einen Tieffliegerangriff bei Leverkusen erlebt. Da könnte ich fast heute noch drüber heulen, dass Leute oben im Flugzeug unten Menschen sehen, die ja auf jeden Fall keine Soldaten sind, sondern Kinder und Frauen mit Gepäck – dass man darauf schießen kann!« 27
    Der Schriftsteller Heinz Küpper, Jahrgang 1930, der die Endphase des Krieges in Euskirchen verbrachte berichtet: »Wir haben ständig den Himmel beobachtet. Wirklich sicher waren nur Zeiträume von zehn Minuten. Also, wenn man zu Oma wollte, die acht Minuten entfernt wohnte, das ging.« 28
    Bei der Frage, warum in unserer Generation im Alter so manche Angst aufkommt, wie sie zu beobachten ist, muss man die Folgen der NS-Zeit, die unsere Generation trägt, die Erinnerungan Krieg, Bomben, Vertreibung und Vaterlosigkeit berücksichtigen und darf auch die Folgen von Schuld und Scham über all das selbst Erlebte und über das Ausmaß der Verbrechen, von denen man nach dem Krieg erfuhr, nicht zu gering schätzen. Es kann vorkommen, dass das psychische Anpassungssystem, das ein Leben lang getragen hat, im
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