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Die Hure Babylon

Die Hure Babylon

Titel: Die Hure Babylon
Autoren: Ulf Schiewe
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ich zur Antwort. »Im schlimmsten Fall errichten wir Absperrungen.«
    Unten auf der Tribüne hob Abt Bernard die Hände zum Zeichen, dass er anfangen wollte. Doch es dauerte noch lange, bis das Getöse verebbte und Ruhe eintrat.
    »Narbonenser«, hallte seine kräftige Stimme über den Platz. »Vor euch stehe ich als Gesandter des Heiligen Vaters und danke euch, dass ihr so zahlreich gekommen seid. Gott schaut auf euch herab. Seine Gnade sei mit euch!«
    Dies führte zu erneutem Applaus. Dann berichtete er von den vielen Menschen landaus, landein, die sich rüsteten, Gottes Ruf zu folgen. »Wie ihr wisst, hat König Louis sein Gelübde abgelegt. Zu dieser Stunde beginnen die Heere der Franken sich zu sammeln.« Er verkündete die große Neuigkeit, dass nun auch der Alemannenkönig Konrad bei Gott geschworen habe, ins Heilige Land zu ziehen. Diese Nachricht wurde mit gewaltigem Jubelgeschrei aufgenommen, das lange nicht aufhören wollte.
    Ich blickte zu Aimar hinüber. »Hast du das gewusst?«
    »Konrad hat lange gezögert, hab ich mir sagen lassen. Zu Weihnachten haben sie ihn endlich überredet. Ich vermute, man hat ihm die Kaiserkrönung in Rom versprochen.«
    Bernard hatte sich warmgeredet. Seine Stimme wurde eindringlicher und beschwörender, als er von den Nöten unserer Brüder und Schwestern in Outremer sprach, von der Türkenbrut, die sich erhoben habe und das Heilige Land bedrohe. Er sprach vom Verlust der Christenstadt Edessa.
    »Es hat den ungläubigen Teufeln nicht genügt, die Mauern zu erstürmen«, rief er mit zornerfüllter Stimme. »Nein, sie mussten die Kirchen niederbrennen, fromme Christinnen schänden und ausnahmslos alle, Mann, Weib oder Kind, niedermetzeln und erschlagen, bis das Blut Tausender durch die Gassen rann. Die ganze Stadt haben sie entvölkert, auf dass an diesem Ort kein christliches Gebet, kein Lob des Herrn mehr erklänge. Das sind die Mächte des Satans, die Feinde Gottes. Ich sage euch, Edessa ist nur der Anfang, denn sie haben geschworen, uns ins Meer zu werfen. Und sie werden nicht ruhen, bis es ihnen gelingt, bis sämtliche Erinnerung an Jesus Christus in Outremer ausgelöscht ist.«
    Diese Worte entfachten den wilden Zorn der Leute. Ein tiefes Grollen ließ sich hören. »Tod den Sarazenen!«, riefen sie. »Rache für Edessa!« Ein Tumult drohte auszubrechen. Ich bekam Angst, dass die Meute in ihrer Wut die wenigen Wachen niedertrampeln und sich ins Viertel der Juden ergießen könnte, um zu plündern und zu morden. Doch Clairvaux gelang es, sie wieder zum Schweigen zu bringen.
    »Warum lässt Gott es zu?«, fragte er sie. »Ist er nicht allmächtig? Kann er nicht eine Legion Engel schicken, um die Teufelsbrut hinwegzufegen?«
    Nun hatte er wieder ihre Aufmerksamkeit.
    »Natürlich kann er das. Es wäre ihm ein Leichtes, diese Geisel von uns zu nehmen. Aber haben wir es denn verdient?«, brüllte er und schüttelte die Faust. »Haben wir nicht gesündigt? Gelogen, gestohlen, gehurt und gemordet? Haben wir nicht den Freund verraten, die Armen ausgeplündert und uns unrechtmäßig bereichert? Große Herren schämen sich nicht, ihre Bastarde vor aller Welt zu zeigen, und ihre Weiber beten in den Kirchen, aber im Geheimen treiben sie Unzucht und Ehebruch. Ein jeder von euch hier soll sein Herz erforschen und mir sagen, ob er frei ist von Sünde.«
    Brüsk hielt er inne und blickte sich um, als würde er jedem Einzelnen in die Seele starren. Die Leute senkten beschämt die Augen. Kein Laut war zu hören. Unwillkürlich hielt auch ich den Atem an, denn trug ich nicht ein Kind der Sünde in mir?
    Nach schmerzhaft langer Pause fuhr Bernard fort, diesmal wesentlich leiser, und dennoch, in dieser reuevollen Stille reichten seine Worte bis in den hintersten Winkel des Platzes. »Seht ihr? Das ist der Grund, warum Gott keine Engel schickt. Denn wir alle sind elende Sünder und haben es nicht besser verdient. Unsere Brüder und Schwestern im Osten werden gemeuchelt, weil wir Gottes Gebote missachten.«
    Nach einer wirkungsvollen Pause hob er die Hände in einer fast hilflosen Geste. »Was können wir tun?«
    Betretene Gesichter überall. Viele bekreuzigten sich.
    »Sag es uns!«, verlangte einer. Andere nahmen den Ruf auf. »Ja, sag es uns«, schrien sie. »Sag es uns!«
    Bernard reckte das Kinn in die Höhe. »In Wahrheit, meine Söhne und Töchter«, rief er nun mit breiter Brust, »solltet ihr froh sein und Gott danken. Denn seht ihr nicht, dass er statt Engel euch schickt, euch
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